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Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Petrowskaja
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Babuschka der Aufruf Alle Juden der Stadt Kiew müssen sich pünktlich u. s. w., erreicht hatte, begann sie sofort, sich bereit zu machen. Die Nachbarn versuchten, es ihr auszureden. Gehen Sie nicht! Sie können doch gar nicht laufen!
     
    Die Kontrolle war lückenlos. Die Hausmeister kämmten die Adressen durch, die Listen der Einwohner. Damit auf Russisch Alle und auf Deutsch Saemtliche gehen, wurden Schulen, Krankenhäuser, Waisenhäuser und Altersheime durchsucht. Das Erscheinen wurde von deutschen und ukrainischen Patrouillen kontrolliert. Aber im Haus Nummer 11 in der Engelsstraße war der Hausmeister bereit, diese Alte nicht zu melden, sie außer acht zu lassen, nicht etwa, um sie vor dem Tod zu retten, nein, an den Tod dachte man gar nicht, oder besser gesagt, man dachte nicht bis zum Tod, man dachte das Geschehen nicht wirklich zu Ende, man hinkte den Ereignissen hinterher. Überlegen Sie einfach selbst, wozu soll eine Greisin sich auf einen Weg begeben, selbst wenn es ins Gelobte Land ginge, wenn sie nicht laufen kann? Gehen Sie nicht, sagten die Nachbarn. Vielleicht Esther blieb stur.
     
    Das Stadtzentrum brannte seit Tagen. Die Explosionen, welche die Stadt in Schrecken versetzten, hörten nicht auf. Häuser gingen in die Luft, mit einer fatalen Regelmäßigkeit. Zuerst das überfüllte Gebäude der Okkupationsverwaltung, dann ein Kino während der Vorführung, ein Soldatenklub und ein Munitionslager. Es nahm kein Ende. Die Häuser wurden von der sich zurückziehenden Roten Armee vermint und per Funk gesprengt. Nur ein paar Ta
ge, und der Krestschatik lag in Trümmern. Im ganzen Zentrum loderte Feuer. Die Deutschen, die sich erst fast friedlich in der Stadt niedergelassen hatten, wurden zuerst ratlos, dann gerieten sie in Panik und verfielen in Raserei angesichts dieser damals noch unbekannten Art des Partisanenkriegs. Es schien, dass der Aufruf an Alle und Saemtliche eine logische Folge war, eine Vergeltungsaktion gegen die angeblich Schuldigen, als ob sie nicht von vornherein schuldig gewesen wären und längst verurteilt, als ob dieser Aufruf spontan erlassen worden wäre, als ob nicht alles in einer längst festgelegten Reihenfolge in die Tat umgesetzt werden sollte. Aber davon und auch von dem, was in der Stadt los war, nicht einmal einen halben Kilometer von ihrem Haus entfernt, wusste Vielleicht Esther anscheinend nichts.
     
    Selbst die Bäckerei gegenüber, an der Ecke Engelsstraße und Meringowskaja war, wie die Nachbarn ihr berichteten, immer geöffnet. Nur drei Stufen tiefer. Die Explosionen nicht gehört? Den Brandgeruch nicht gespürt? Das Feuer nicht gesehen?
     
    Wenn Alle, dann Alle, sagte sie sich, als ob es eine Ehrensache wäre. Und sie ging hinunter. Alles andere stand still. Wie genau sie hinunterging, verschweigt uns die Geschichte. Obwohl, nein. Die Nachbarn müssen ihr geholfen haben, wie sonst?
    Auf der Kreuzung unten machten die Straßen ihre Biegungen, rundeten sich in der Ferne, und man spürte, dass die Erde sich doch dreht. Auf der Straße war sie dann allein.
    Außer einer Patrouille war in diesem Moment niemand zu erblicken. Vielleicht waren Alle schon weg. Zwei flachsblonde, stramme, beinahe elegante Männer flanierten gemächlich und pflichtbewusst auf der Kreuzung. Es war hell und öde, wie in einem Traum. Als Vielleicht Esther zu ihnen ging, sah sie, dass es eine deutsche Patrouille war.
     
    Wie viele ukrainische Polizisten am ersten Tag der Operation in den Straßen Kiews unterwegs waren, um das Erscheinen Aller zu kontrollieren, hat niemand gezählt. Es gab viele Ukrainer, aber vermutlich oder sogar bestimmt näherte sich Babuschka lieber den Deutschen als den Ukrainern, denen sie misstraute. Hatte sie eine Wahl?
     
    Sie ging zu ihnen, aber wie lange dauerte dieses ging ? Hier folge jeder seinem eigenen Atem.
     
    Ihr ging entwickelte sich wie ein episches Geschehen, nicht nur weil Vielleicht Esther sich wie die Schildkröte aus den Aporien von Zenon bewegte, Schritt für Schritt – langsam, aber sicher – sie war so langsam, dass niemand sie einholen konnte, und je langsamer sie ging, desto unmöglicher war es, sie einzuholen, sie anzuhalten, sie zurückzubringen, und erst recht, sie zu überholen. Nicht einmal der schnellfüßige Achilles hätte das gekonnt.
     
    Sie ging ein paar Meter die Engelsstraße hinunter, eine Straße, die früher Luteranskaja hieß und heute wieder so heißt, ja, nach Martin Luther, eine Straße, an der die schönsten

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