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Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Petrowskaja
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anspanne – es geht nicht. Ich sehe die Gesichter nicht, verstehe nicht, und die Geschichtsbücher schweigen.
     
    Woher kenne ich diese Geschichte in ihren Einzelheiten? Wo habe ich ihr gelauscht? Wer flüstert uns Geschichten ein, für die es keine Zeugen gibt, und wozu? Ist es wichtig, dass diese alte Frau die Babuschka meines Vaters ist? Und was, wenn sie nie seine Lieblingsoma war?
     
    Für diese Geschichte fanden sich tatsächlich Zeugen. 1948 kehrte die Familie meines Vaters nach Kiew zurück, sie
ben Jahre nach ihrer Datscha-artigen Evakuierung, nach Aufenthalten in Rostow, Aschchabad und mehreren Jahren in Barnaul im Altai-Gebiet. Das Haus in der Engelsstraße war zerstört wie auch das gesamte Viertel. Vom Haus war nur eine Schachtel, ein Gerippe geblieben. Auf dem Balkon des fünften Stocks stand ein Bett, aber es führte kein Weg mehr zu ihm. Das Innere des Hauses war komplett weg, ebenso die Treppe. Auf einem deutschen Luftbild vom November 1941 kann man dieses Bett sehen, auf dem sich mein neunjähriger Vater noch im ersten Kriegssommer gesonnt hatte.

     
    Als Vielleicht Esther einsam gegen die Zeit ging, gab es in unserer Geschichte eine ganze Menge unsichtbarer Zeugen: Passanten, die Verkäuferinnen in der Bäckerei drei Stufen tiefer und die Nachbarn hinter den Vorhängen dieser dicht bewohnten Straße, eine nirgendwo erwähnte, gesichtslose Masse für die großen Flüchtlingszüge. Sie sind die letzten Erzähler. Wohin sind sie alle umgezogen?
     
    Mein Großvater Semjon suchte lange nach jemandem, der etwas über Babuschka wusste. Es war der Hausmeister des nicht mehr existierenden Hauses, der ihm alles erzählte. Es scheint mir, dass an diesem 29. September 1941 jemand am Fenster gestanden hat. Vielleicht.

Kapitel 6
Deduschka
    Das Schweigen des Großvaters
    Er lächelte sanftmütig, verlegen über sein Glück, als ob dieses Dasitzen der Höhepunkt seines Daseins wäre. Er saß im Sessel, lächelte die Enkel an und schwieg. Man konnte denken, es sei nicht nur sein Charakter, sondern sein Leben, das ihm den Seelenfrieden geschenkt hat. Im Juni 1941 ging er in den Krieg, geriet bei Kiew in einen Kessel, verbrachte beinahe vier Jahre in Kriegsgefangenschaft, überlebte, kehrte aber nicht zur Familie zurück. 41 Jahre später wurde ich Zeugin seiner Heimkehr aus dem Krieg.
     
    Die Verrückte in der Straßenbahn hatte recht. Draußen waren schon die achtziger Jahre, doch als die Straßenbahn um eine Kurve fuhr, fragte sie zuerst ihre Sitznachbarn, danach die dicke, schwitzende Kontrolleurin, dann mich, die Elfjährige, wie eigentlich der Krieg ausgegangen und ob er überhaupt zu Ende sei. Sie fragte nach dem Kriegsende, so wie man nach einer Haltestelle fragt, als hinge von der Antwort ihr Aussteigen ab. Ist der Krieg zu Ende?
     
    Ein halbes Jahr später kehrte mein Großvater zurück. Lange hatte ich keinen Großvater gehabt, und plötzlich war er da. Erst besuchte ich ihn in seinem Garten, dann zog er zu uns, nach Hause, sagte er, ich möchte nach Hause.
     
    Mein Großvater, der einzige Ukrainer in der Familie, ausgerechnet er, landete in einem Lager, in Mauthausen, so wurde mir erzählt. Zurück in der Sowjetunion, wurde er in ein Filtrationslager geschickt und dort verhört. Eine
Frau half ihm, unseren Lagern zu entkommen. Unsere Lager klang für mich beinahe zart, ich wusste nicht, dass es dafür ein schneidendes Wort gab, Gulag, damals benutzte es niemand. Mein Großvater blieb bei der Frau, die ihn gerettet hatte, eine logische und klare Sache, so sagte man mir, sie hat ihn doch gerettet, er blieb bei ihr, wohnte in Kiew und kehrte nicht zu seiner Familie zurück, nicht zu seiner Rosa und den zwei Töchtern, damals schon zehn und achtzehn Jahre alt. Ich war zwölf, als er zurückkam, nach vier Jahrzehnten Abwesenheit. Er saß die ganze Zeit im Sessel und lächelte. Ein Jahr später starb er, zu Hause.
     
    In dieser kompakten Version stimmte alles. Im Rhythmus einer Ballade liefen ein paar Zeilen seines Lebens an mir vorbei. Ich stellte keine Fragen, und ich zweifelte nicht. Er war weg, und nun war er da.
    Ich wiederholte mir seine Geschichte, damals und später, als sollte ich sie auswendig lernen, doch etwas blieb unklar und beunruhigte mich. War es die steile Karriere im Agrarministerium? Das Lager? Die Rückkehr? Vor dem Krieg war er als Landwirt und Zootechniker schnell aufgestiegen, ein verlässlicher Arbeiter war er, gutaussehend und schön, sagte meine Mutter, und er hatte Erfolg

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