Vielleicht Esther
etwas Verhängnisvolles. Ich dachte auch an den bösen Zauberer aus dem Märchen, Кощей Бессмертный, Kostschej Bessmertnyj, Kostschej der Unsterbliche, der zwar sterblich war, doch hockte sein Tod in der Nadelspitze, die Nadel im Ei, das Ei in der Ente, die Ente wohnte auf der Eiche und die Eiche wuchs auf einer Insel, von der niemand wusste, wo sie ist. Und hier – eine nackte Ferse!
Ich sah den Schatten meiner Mutter an der Wand, der wie eine Gestalt auf einer Terrakotta-Amphore aussah, ich dach
te an die Mutter von Achilles, an den schwarzen Styx und an das dämmrige Schattenreich, dann an unseren breiten Fluss, den ich jeden Tag auf dem Weg zur Schule überquerte, an unser Schattenreich und wieder an meine Mutter, die die Geschichte vom schnellfüßigen Achilles unvorstellbar lang erzählte, episch und abschweifend, sie erzählte von Troja, von der Freundschaft mit Patroklos und vom Zorn. Sie stieß das Wort Zorn mehrmals aus, und zornig erzählte sie weiter, wie Achilles wegen seiner Freundschaft mit Patroklos starb, direkt in die Ferse von einem Pfeil getroffen, den Paris schoss und Apollon leitete. Ich verstand nicht, warum Apollon, Patron und Beschützer der Musen, diesen Pfeil an den Ort geleitet hat, wo in diesem Moment auch meine verängstigte Seele verweilte.
Und so wurde die Geschichte von Achilles zu meiner eigenen Blöße, zu meinem Schwachpunkt, denn meine Mutter hat mich in dieser Geschichte gebadet, im Fluss der Unsterblichkeit, als ob ich so den Schutz der Unsterblichen hätte erhalten können, aber meine Ferse hat sie vergessen, meine Ferse, wo meine Seele, geplagt von Angst und in Vorahnung eines Verhängnisses, sich zusammenrollte, und ich begriff, dass jeder eine Blöße haben muss, die Ferse, die Seele, der Tod – der einzige Beweis der Unsterblichkeit, eigentlich.
Eigentlich waren die Transportmittel entscheidend. Wer konnte, floh aus Kiew. Als Semjon schrie, die Familie solle in zehn Minuten unten sein, dort wo der Lastwagen wartete, stand der Kübel mit dem Fikus schon auf der Ladefläche. Der Nachbar hatte ihn, verwirrt von dem Durch
einander, dort hingestellt, bereit zur Evakuierung. Auf der Ladefläche waren schon zwei Familien, Säcke, Koffer, Bündel und eben der Fikus im Kübel, das Symbol von Heim und Herd. Für eine weitere Familie war kein Platz. Mit einem Ruck nahm Semjon den Fikus herunter und schob die Koffer auseinander, um Platz für seine Frau und seine beiden Söhne zu schaffen. So blieb der Fikus am Straßenrand der abschüssigen Luteranskaja stehen.
Ich sehe die Blätter dieses Fikus, die nun, im Jahre 1941, im Takt der Weltereignisse nicken. Diesem Fikus verdanke ich mein Leben.
Ich lese, was mein Vater über seine Evakuierung geschrieben hat. Alles stimmt, nur fehlt der Fikus, von dem er mir früher erzählt hatte. Alles ist heil und am richtigen Platz: ein verstörter kurzsichtiger Junge – mein zukünftiger Papa –, sein entschlossener Vater in neuer Uniform, der Lastwagen, die Nachbarn, die Koffer, die Bündel, das Durcheinander, die Hast. Alles ist da. Nur der Fikus im Kübel fehlt. Als ich den Verlust feststelle, verliere ich den Boden unter den Füßen. Hebel und Fixpunkt meiner Geschichte sind weg.
Dabei sehe ich den Fikus deutlich vor mir, allein und verlassen vor dem Elternhaus meines Vaters. Seine Blätter zittern im Takt der einmarschierenden Wehrmacht. Wenn ich dieses Getrampel höre, zu dem man Schostakowitsch pfeifen könnte, begreife ich, dass mein Vater nur deshalb überlebt hat, weil der Fikus vom Lastwagen geräumt wurde. Natürlich musste man den Fikus wegräumen. Es wäre absurd gewesen, wenn statt des Jungen der Fikus evakuiert
worden wäre. Aber in der Logik der damaligen Ereignisse hätte auch dies normal sein können. Allein die Vermutung, dass dieser kleine Junge durch eine zufällige, sei es sogar eine fiktive Verkettung von Umständen – stellen Sie sich das einmal vor – in Kiew hätte bleiben müssen, nimmt mir die Möglichkeit meiner Geschichte, zieht meine Existenz in Zweifel. Man verliert eine einzige Karte, und schon kann man nicht mehr weiterspielen.
Die Stammesbrüder dieses Jungen, die, die in der Stadt geblieben waren, obwohl, Stammesbrüder ist ein neutraler Begriff, lassen Sie uns Juden sagen, es ist einfacher, einfacher in dem Sinne, dass man es besser versteht, als ob man es besser verstehen könnte, aber es ist leider oder fatalerweise wirklich verständlicher, post factum
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