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Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Petrowskaja
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Bäume wuchsen, wo sich seit dem neunzehnten Jahrhun
dert deutsche Geschäftsleute niedergelassen hatten und wo, eine ganz oben und die andere an der Ecke Bankowaja, zwei deutsche Kirchen gebaut worden waren, eine von ihnen stand direkt vor meiner ersten Schule. Vierzig Jahre nach Babuschkas Gang lief ich jeden Tag an diesen deutschen Kirchen vorbei.
     
    Erst hieß sie Luteranskaja, dann Engelsstraße – Straße von Engels oder Straße der Engel. Alle, die nicht wussten, in welchem Reich diese Straße lag, konnten denken, sie sei tatsächlich den Engeln gewidmet. Das passte zu dieser Straße, die so unmöglich steil war, so abschüssig, dass sie jeden Hinabsteigenden beflügelte. Ich war ein sowjetisches Kind, kannte Friedrich Engels und erdete meinen Schritt.
     
    Vielleicht spiegelte sich in Vielleicht Esthers verzögertem Gang ein sprachlicher Irrtum wider. Für die älteren Kiewer Juden war Jiddisch noch immer ihre Muttersprache, egal ob sie religiös waren und die Traditionen achteten oder ob sie ihren Kindern hinterherstürzten, geradewegs vorwärts in die helle sowjetische Zukunft. Viele jüdische Alte waren stolz auf ihr Deutsch, und als die Deutschen kamen, dachten sie möglicherweise, trotz all dem, was da schon erzählt wurde, was durch die Luft flog und nicht mehr als Lüge bezeichnet werden konnte, dass sie, gerade sie, die nächsten Verwandten der Okkupationstruppen seien, ausgestattet mit dem besonderen Recht derer, für die das Wort alles ist. Den Gerüchten und Berichten, die aus Polen und aus der zum großen Teil schon besetzten Ukraine nach Kiew drangen, wurde einfach nicht geglaubt. Wie hätte man solchen Gerüchten auch glauben können?
     
    Den Alten war das Jahr 1918 noch in Erinnerung, als nach den militärischen Wirren und dem ständigen Drehen des Machtkarussells die Deutschen in die Stadt einmarschiert waren und dafür gesorgt hatten, dass eine gewisse Ordnung herrschte. Und nun schien mit den Deutschen plötzlich wieder so eine Ordnung einzuziehen. Diese exakten Anweisungen auf Russisch: Alle Juden der Stadt Kiew und Umgebung haben sich am Montag, dem 29. September 1941 bis 8 Uhr Ecke Melnik- und Dokteriwski-Strasse (an den Friedhöfen) einzufinden. Mitzunehmen sind Dokumente, Geld und Wertsachen sowie warme Bekleidung, Wäsche usw. Deutlich, klar und verständlich, Alle, 8 Uhr und die genaue Adresse. Und weder die Friedhöfe noch das abwertende Wort z yd auf den russischen Plakaten haben sie beunruhigt. Vielleicht war es die leichte Schattierung der polnischen und der westukrainischen Sprache, in der man für Juden kein anderes Wort hat als z yd , das im Russischen so kränkend klingt. Es stand da noch etwas über Erschießung. Bei Zuwiderhandlung – Erschießung. Bei Entwendung von Gegenständen durch Juden – Erschießung. Also nur, wenn man sich nicht an die Regeln hielt.
     
    In der Zeit, in der Babuschka ging, hätten Schlachten ausbrechen können, und Homer hätte begonnen, die Schiffe aufzuzählen.
     
    Eine der ersten Geschichten, die meine Mutter mir vorgelesen hat und die sie mir danach, wer weiß warum, noch mehrmals nacherzählte, als ob in diesen Wiederholungen eine belehrende Kraft steckte, war die Geschichte von
Achilles und seiner Ferse. Als seine Mutter ihn im Fluss der Unsterblichkeit badete und ihn dabei an der Ferse festhielt, sagte meine Mutter mit schmeichelnder Stimme, als ob die Geschichte schon zu Ende wäre, sie hielt ihn an der Ferse, sagte meiner Mutter, ich weiß nicht mehr, war es die linke oder die rechte – aber vielleicht hat meine Mutter das auch gar nicht erwähnt, und ich bin es, die sich damit beschäftigt, ob es die linke war oder die rechte, obwohl es überhaupt keine Rolle spielt.
    Der Fluss war kalt, der Säugling schrie nicht, es war im Schattenreich, und alle glichen den Schatten, sogar der dicke Säugling sah aus, als wäre er ausgeschnitten aus Papier. Sie badete ihn im Fluss, erzählte meine Mutter, damit er unsterblich wurde, aber die Ferse hatte sie vergessen. Ich erinnere mich daran, wie mich an dieser Stelle die Angst jedesmal so packte, dass meine Seele in die Fersen rutschte, wie man auf Russisch sagt, wenn man von Furcht ergriffen wird, vielleicht ist es sicherer für die Seele, wenn sie sich in die Fersen zurückzieht und dort bleibt, bis die Gefahr vorbei ist. In diesem Moment konnte ich mich nicht mehr bewegen und kaum noch atmen, ich wusste, dass die Ferse, die Achilles' Mutter hielt, etwas Unabwendbares verkörperte,

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