Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)
und Zusammenhänge aus seiner Sicht darstellen zu lassen und damit vieles verständlicher zu machen – auch wegen der Diagnose.
Als ich Chris um diese Niederschrift bat, war er so folgsam wie immer, setzte sich sofort hin und begann, meinen Wünschen gerecht zu werden. Er war immer bestrebt, das Richtige zu tun und lieferte mir nach wenigen Tagen ein Skript ab, was ich so in dieser Form noch nie gelesen hatte.
Ich habe beschlossen, dieses Skript, bis auf kleine Ausdrucks- und Rechtschreibfehler, unverändert hier als Dokument abzudrucken.
Seine Art, die Welt zu betrachten und Zusammenhänge auseinanderzureißen, aber auch neue Zusammenhänge zu modellieren, ist unglaublich und beeindruckend zugleich. Zudem kommt die ungewöhnliche Wortwahl, die er benutzt, um alles zu erklären. Auch die Sichtweise ist außergewöhnlich.
Eine Untersuchung ergab, dass bei Chris keine neurologischen Schäden oder andere geheimnisvolle Gehirnleiden vorliegen. Alles war also ein Prozess, der sich in seinen Gedanken abspielte. Ich will es so formulieren: Chris erlebte eine Kindheit, in der er sich vielerlei zusammendachte. Das nennt man auch ein verzerrtes Erinnerungsvermögen. Es werden ständig passendes Details mit in die Erinnerung eingeflochten, auch wenn sie nichts damit zu tun hatten. Das war ihm nicht zu verdenken, nach allem, was er bislang erlebt hatte.
Seinen nun nachfolgenden Text muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Danach werde ich mein weiteres Leben mit Chris in der Jungendpsychiatrie beschreiben. Doch jetzt tauchen Sie erst mal in die Welt von Christopher Gelton ein.
Christophers Geschichte:
Ich habe von Bob, meinem besten Freund und Kunstkenner, den Auftrag bekommen, mein Leben aufzuschreiben. Junge, das wird eine Aufgabe werden, sag ich euch. Aber ich werde mein Bestes tun. Man soll ja schließlich gehorchen.
Ab heute habe ich Ferien und werde in dieser Zeit alles aufschreiben, was mir einfällt und woran ich mich erinnern kann.
Manchmal kann ich mich nicht ganz erinnern. Dann muss ich viel nachdenken. Ein bisschen habe ich auch vergessen; dann wird es nicht so wichtig gewesen sein. Wichtig ist doch nur, woran man sich erinnert. Und ich erinnere mich an verdammt viel in meinem Leben. Deswegen lässt Bob mich alles selber schreiben. Denn er kann sich nicht an so viel erinnern wie ich, sagt er. Ich kann stolz sein, so eine Erinnerungsgabe zu haben, sagt er auch.
Also fange ich jetzt mal an, damit ich die Aufgabe schaffe und Bob sich freut.
Hallo Bob, hier ist meine Geschichte:
Mein Name ist Christopher Gelton.
Wenn ich jetzt meinen Nachnamen sage, wird jeder sagen: großer Gott, dieser Gelton!
Ich bin nämlich sehr bekannt. Ich bin der Sohn von Dane Gelton.
Man hat mir gesagt, mein Vater sei ein Mörder gewesen, aber das stimmt so nicht. Er hat zwar viele Menschen umgebracht, das stimmt, aber wenn man seine Geschichte kennt, kann man das verstehen. Ich zumindest. Ich finde, ein Mörder ist man dann, wenn man sinnlos tötet, oder? Mein Vater hat nicht sinnlos getötet.
Bob sagte, mein Vater sei so gewesen, weil seine Seele von seinen Eltern zerstört wurde. Die waren sehr gemein zu ihm. Er hatte damals niemanden, der ihm half oder richtig liebte. Heute weiß ich, was eine Seele ist, denn sie tut manchmal ganz schön weh.
Bob erklärte mir auch, dass mein Vater früher von seinem Vater sehr schlecht behandelt wurde und das hat meinen Vater sein ganzes Leben lang verrückt gemacht. Dann ist er Amok gelaufen. Also Amok ist, wenn das Hirn ausrastet und man nicht mehr weiß, was man tut. Auch nicht, wenn man wirklich böse Sachen macht, die man besser lassen sollte.
Ich wurde von meinem Vater auf die Welt geholt, auf seiner Farm in Kansas in einer Scheune.
Es sollte mich eigentlich gar nicht geben, denn meine Mutter wollte mich nicht. Ich meine, sie wollte nicht, dass ich gezeugt werde. Sie fand, man solle die Dinge nicht wiederholen. Ich frage mich bis heute, was soll man nicht wiederholen?
Meine Mutter sagte einmal, dass man Grausamkeiten über Generationen pflegen kann. Mein Vater war dann wohl so ein Pflegekind .
Ich habe meinen Vater nie kennengelernt, obwohl ich ihm einmal begegnet bin. Wie das sein kann? Na, bei meiner Geburt. Da war er dabei gewesen. Kurz danach war er tot. Er wurde von einem anderen Mann erschossen. In den Hals. Unter seinem Kopf war eine riesige Blutlache.
Meine Mutter erzählte mir einmal, ich hätte damals furchtbar geschrien. Das ist doch normal, wenn Babys geboren werden,
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