Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)
versucht, eine Ejakulation bei ihm hervorzurufen. Das ist passiert. Henry ist erst neun!“
„Großer Gott!“, entfuhr es mir. „Davon steht nichts im Buch. Überhaupt nichts. Nicht ein Wort, was darauf hindeuten könnte.“ Ich dachte, dass Chris damit eine Weiche zur eigenen Perversion gelegt hat.
„Hat Henry schon mit Dr. Brisco gesprochen?“
„Nein“, sagte Pilburg gequält. „Die ganze Sache wird immer schlimmer für mich.“
„Warum?“
„Na, weil ich die Jungen in ihre Zimmer eingeteilt habe. Ich habe Henry zu Chris gesteckt, weil ich dachte, dieser liebe kleine Kerl würde einen guten Einfluss auf ihn ausüben. Ich hätte Chris ein Einzelzimmer geben müssen. Ich habe es aber nicht getan. Ich dachte, es täte Chris gut. Henry ist so ein lieber Kerl. Er würde vielleicht etwas Normalität in Chris' Leben bringen. Scheiße!“ Pilburg ließ seinen Kopf in seine verschränkten Arme, die auf dem Tisch lagen, fallen.
Jetzt war mir auch klar, warum Chris nach seinem Buch verlangte. Er wollte die Sache jetzt sicherlich erklären . War die erste entwendete Pille von Henry für Pilburg eiskalte Berechnung von Chris gewesen? So war Pilburg ruhig und Henry musste gezüchtigt werden. Auf die eine oder andere Art. Es war ja keiner da, der ihm helfen konnte.
Ich sah mit blindem Blick zur Decke. Mir stiegen Tränen in die Augen, als ich an die Angst von Henry dachte. Von eine auf die andere Nacht eine missbrauchte Seele mehr. Wie groß musste seine Angst gewesen sein, als Chris ihm sein Glied massakriert hatte? Wie groß musste sein Schmerz gewesen sein, als kein Samenerguss erfolgte?
Pilburg und ich waren ja selbst einmal Jungen gewesen. Wir kannten diesen Schmerz. Die erste Ejakulation als tiefster Schmerz in unserer tiefsten Erinnerung. Geheimnisvoll, erniedrigend, peinlich. Bei Henry war es kein Geheimnis mehr. Pure Demütigung.
Chris gewann jeden Tag mehr meine Abneigung. Dabei war er gerade mal ein Knabe von zwölf Jahren, der es schaffte, jeden in seiner näheren Umgebung zu zerstören.
Ich kehrte plötzlich in mich. Chris war ständig geprügelt und angefasst worden. Doch so richtige Hilfe hat er nie bekommen. Wir haben uns immer um die Täter gekümmert, aber nie wirklich um ihn. Dachten wir, dass mit der Täterbestrafung seine Seele wieder geheilt war? Eine Art Wiedergutmachung? Ich kann mich erinnern, dass wir ihm nie eine Therapie im Heim anbieten konnten. Einmal hatte ich versucht, einen Therapeuten für ihn zu finden, was mir aber nicht gelungen war. War Chris‘ Verhalten das Ergebnis eines allein gelassenen Opfers? Ein Opfer, dass jetzt selbst zum Täter wurde?
„Wir müssen es Dr. Brisco mitteilen“, sagte ich nach langer Stille.
Pilburg sah auf. „Ich werde kündigen“, sagte er. “Ich bin am Ende. Würden Sie das bitte Dr. Brisco von mir mitteilen?“
Ich versuchte, seine Gedanken zu durchschneiden, indem ich sagte: „Hat Henry Verletzungen erlitten?“ Ich meinte äußerliche. An die seelischen wollte ich nicht auch noch denken. (Noch ein Opfer, dachte ich nur.)
Jetzt war Pilburgs Blick noch zerstörter. „Ich habe nicht nachgesehen? Würden Sie das für mich tun?“
Sein Blick war so bitter, so hilflos. Ich würde es tun. Sicher. Ich würde dabei sein, wenn Pilburg hingerichtet werden würde. Handlung, Urteil, Hinrichtung.
Pilburg war seine Zulassung los.
In meiner Erinnerung krochen plötzlich Worte hoch. Las ich nicht in Chris' Aufzeichnungen: Pilburg mag mich nicht . Waren es gar nicht die geliebten Menschen, die Chris vernichtete? Waren es die, die ihn nicht mochten? Seine Mutter zum Beispiel war eine von ihnen. Nach deren Liebe und Aufmerksamkeit hatte Chris ständig verlangt, sie aber nicht bekommen. Umgedreht hatte sein Vater, Dane Gelton, seine Frau bis in seinen Tod hinein beschützt, weil sie seine Liebe erwidert hatte. Aber seine Liebe zu ihr war anormal gewesen. Was hatte Chris von seinem Vater wirklich mitbekommen? Und wo stand ich für ihn? Liebte er mich so sehr, dass er mich um jeden Preis beschützen würde? Jenny sagte, ich sei Chris' bester Anwalt. War er auch zu meinem geworden? War er meine Absicherung für eine erfolgreiche Arbeit hier?
Wie ein Blitz schlug mir mein Auftreten von heute Morgen Chris gegenüber in meine Gedanken. Ich hatte ihn erstmals wirklich zurückgewiesen, ihm sogar meinen vertrauten Namen entzogen. Was, wenn er merkte, dass ich ihn auch nicht mehr zu mögen begann?
Gütiger Himmel! Was würde er sich für mich einfallen lassen?
Das Buch!,
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