Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)
heute nicht da. Er ist krank“, sagte ich. „Kann ich dir helfen?“
Henry schüttelte den Kopf und wollte mein Büro wieder verlassen. Ich ging hinter ihm her und hielt ihn fest. „Henry, Dr. Pilburg hat mit mir gesprochen, bevor er ging. Er sagte, dass ich mich um dich kümmern soll, solange er weg ist. Er sagte, dass du großen Kummer hast.“
Ich sah den Jungen an. Er ging mir gerade bis zur Brust, so dass ich vor ihm in die Hocke ging. Henry nickte ganz unscheinbar.
„Magst du erzählen?“, fragte ich leise. „Ich werde Dr. Pilburg dann berichten. Ich vertrete ihn heute nämlich.“
„Wann kommt Dr. Pilburg zurück?“, fragte Henry.
„Das kann ich leider nicht sagen. Ich glaube, er hat eine starke Erkältung. Das kann Tage dauern.“
Henry sah bedrückt zu Boden. Ich sah auch zu Boden. Dann fragte ich leise: „Meinst du, wir zwei können auch miteinander reden?“
Henry zuckte mit den Schultern.
„Dr. Pilburg und ich arbeiten ganz eng zusammen. Wir sind zwei richtig gute Kumpels. Wir behalten Geheimnisse für uns.“ Ich wartete. Es war so schmerzhaft, diese kleine belastete Seele zu sehen. Zu Grunde gerichtet stand sie vor mir, wie vor einem Henker.
Ich sagte: „Weißt du was?“ Der Junge sah auf. „Wir zwei gehen jetzt nach draußen und schaukeln etwas auf dem Spielplatz. Ist das okay?“
Das war okay, und wir suchten im eingegrenzten Freigelände den Spielplatz auf. Der befand sich direkt an den Fenstern des Essraumes.
Henry setzte sich auf eine Schaukel, und ich schubste ihn an. „Hey“, rief ich, „hier sitzt der weltbeste Schaukelmeister, hey.“ Ich stieß ihn noch einmal kraftvoll an, so dass Henry lachte und schrie: „Der weltbeste Schaukelmeister, hey!“
Mit lauten Anfeuerungsrufen schaukelten wir minutenlang, bis Henry sich von seinen Beklemmungen mir gegenüber befreit hatte. Ich sagte: „Was tun Männer, die weltbeste Schaukelmeister sind und genug geschaukelt haben?“
„Weiß nicht!“, schrie Henry.
„Sie trinken eine Männer-Limo.“
„Männer-Limo!“, schrie Henry.
„Ja!“, schrie ich zurück und hielt die Schaukel an. „Sir“, sagte ich, „ich lade Sie ein.“
Damit hatte ich das Vertrauen des Jungen vorerst erlangt. Ich nahm ihn an der Hand und ging mit ihm in den großen Speiseraum. Dort organisierte ich kurzerhand eine gelbe Limo und setzte mich mit Henry direkt ans Fenster, damit er die Schaukel, auf der er gerade gesessen hatte, gut sehen konnte.
Ich nahm einen großen Schluck und sagte: „Mann, tut das gut!“
Henry eiferte mir nach. Ich rülpste leise und hielt mir vorgetäuscht verschämt die Hand vor den Mund. Henry musste lachen. Auch er rülpste – laut und ohne Hand von dem Mund.
„Wie geht’s, alter Schaukelmeister?“, fragte ich, um seine Stimmung zu testen.
„Gut, Sir“, sagte Henry.
„Das ist gut.“
„Und Ihnen, Sir?“, fragte Henry.
„Geht so“, sagte ich. „Gestern ging's besser. Manchmal sind die Tage wirklich verflucht. Da passieren einem Dinge ...“ Ich fuchtelte theatralisch mit meinen Händen in der Luft herum. „... die kann man gar keinem erzählen. Kennen Sie das, Sir?“
Henry grinste und sagte: „Ja, Sir. Dinge, die man keinem erzählen möchte.“
Ich nickte und griff für einen weiteren Schluck zur Limo. Henry ahmte mir mein Verhalten nach.
„Erst gestern“, sagte ich mit Seemannsstimme, „da musste ich pinkeln ...“ Ich sah mich kurz um, ob uns jemand belauschte. Es war niemand da. Also fuhr ich fort: „Da saß ich auf dem Klo. Und Sir, dann kam nichts. Gar nichts!“ Wieder fuchtelte ich mit meinen Händen herum.
„Warum, Sir?“, fragte Henry. Er stieg auf mein Spiel ein.
„Oh, Sir“, sagte ich jetzt mit leiser Stimme, „... das ist mir wirklich peinlich, aber es setzte sich einer neben mich aufs Nachbarklo. Und plötzlich dachte ich, jetzt kommt der rüber und reißt dir den Pillermann ab.“ Ich beobachtete Henry. Er wurde leicht rot. Ich redete weiter: „Und da konnte ich einfach nicht mehr pinkeln. Einen ganzen Tag lang nicht. Mann, hatte ich eine Angst, Sir!“
Henry reagierte, zunächst mit aufgesetzter Mine. „Das ist mir auch schon mal passiert.“
„Oh“, sagte ich, „ist das nicht peinlich?“
Henry nickte, und ich sah, wie er innerlich zerfiel. Seine Stimme piepste plötzlich, als er sagte: „Und es tut so weh …, Sir.“ Jetzt stiegen ihm Tränen in die Augen. Ich stand sofort auf und lief zum ihm um den Tisch. Ich nahm den Jungen vom Stuhl und drückte ihn an mich. Da brach sein ganzer
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