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Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)

Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)

Titel: Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Schreiner
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und zog meine Hand zurück.
„Ja, bis Chris die richtige Behandlung erhält. Vertraue Dr. Brisco. Er hat mehr Abstand zu der Sache und mehr Erfahrung als du.“
Ich nickte. Doch vorher wollte ich noch was erledigen.
    Im Personalzimmer befanden sich die Akten der Patienten. Darin waren die Medikationen eines jeden einzelnen eingeheftet. Ich griff nach Henrys Akte und las seinen Medi-Plan. Er bekam jeden Morgen, Mittag und Abend Melperon. Das waren drei pro Tag. Das wären bei sieben Tagen 21 Pillen. Wie viele Pillen hatte Dr. Pilburg für Henry dabeigehabt? Auch für die anderen Patienten. Umgedreht, wie viele Pillen fehlten? Daraus ließe sich die Dimension einer Portion errechnen. Und wir bekämen eine Vorstellung davon, wie viel Medikamente jeder Mitarbeiter einverleibt hatte.
Ich fragte Josh, einen unserer Pfleger, wo sich die Berichte für den Ausgang der Patienten befanden. Josh holte einen blauen Ordner hervor.
„Befindet sich dort der Plan für die Freigangmedikamente?“ Das sind die Mengen und Dosierungen, die Ärzte dem Lager entnehmen, wenn die Patienten abgeholt werden oder Ausflüge über einen längeren Zeitraum machen. Josh nickte.
Ich durchblätterte die Akte. Der Ausflug ins Camp war nirgends zu finden.
„Wo ist der Camp-Ausflug?“, fragte ich Josh.
„Hat Dr. Brisco heute Morgen geholt.“
Brisco war also auf der gleichen Spur. Das war ein guter Grund, direkt sein Büro aufzusuchen. Ich wurde schon erwartet.
Als ich eintrat, saß zur linken Seite des Zimmers Dr. Pilburg. Er sah verdammt schlecht aus. Jetzt, als ich wusste, was passiert war, tat er mir wirklich leid. Sein Blick zu mir war reserviert. Das konnte ich gut verstehen. Dennoch grüßte ich ihn so freundlich wie es mir möglich war.
Ich zog das Buch aus meiner Tasche und legte es Dr. Brisco auf den Tisch.
„Bob“, sagte Dr. Brisco, „wissen Sie eigentlich, was genau passiert ist oder wissen Sie nur das, was Chris Ihnen erklärt hat?“
Tja, dachte ich, erst das zweite, dann das erste. „Ich bin im Bilde“, sagte ich ernst und wandte mich an Dr. Pilburg. „Wie geht’s Ihnen?“
Pilburg sah weg. „Geht so“, sagte er leise. War er beschämt?
Ich zeigte auf das Buch. „Chris hat geschrieben, wie er an die Pillen gekommen ist und dass er dem Personal je eine Portion in eine Colaflasche gegeben hat.“
Brisco nahm das Buch an sich. Ich sah auf dem Schreibtisch den Medi-Plan fürs Camp liegen. Die Recherchen liefen also. Ich fragte vorsichtig: „Darf ich mal fragen, wie viele Pillen in der Dose von Henry waren?“
„Achtundachtzig“, antwortete Pilburg kurz und bündig. „Und es fehlen noch dreiundfünfzig Pillen weiterer Medikamente.“
Großer Gott!
„Henrys Pillendose ist komplett verschwunden, die anderen befinden sich noch im Medikamentenkoffer.“
Aha, Henrys Dose befand sich also noch in Chris' Besitz. Wie viele Pillen mochten dort tatsächlich fehlen? Etwa alle?
Brisco und Pilburg sahen mich fordernd an.
    Ich klopfte vorsichtig an Chris' Zimmertür. Niemand rief herein. War auch unnötig, die Tür war verschlossen.
Ich schloss sie auf und blickte hinein. Chris lag auf dem Bett und starrte zur Decke. Neben ihm auf dem Nachttisch stand sein nicht angerührtes Abendessen.
„Hallo Chris“, sagte ich leise.
Er sah kurz zu mir hin, dann starrte er wieder hoch zur Decke.
Ich dachte an die harte Tour: rede Bursche! Dann an die weiche Tour: erzähl mal.
Dann überlegte ich mir, erst einmal abzuwarten, was er tun oder sagen würde. Ich setzte mich schweigend an seinen Schreibtisch. Ein Blatt lag darauf, vollgeschrieben mit Musiknoten. Er komponiert jetzt, schlussfolgerte ich. Morgen würde sein ganzes Zimmer voller Musiknoten gemalt sein. Langsam begriff ich, dass er unbedingt Medikamente brauchte. Zu schade, da es seine ganzen Begabungen bis in Unscheinbare abdämmen würde, auch die guten.
Wir schwiegen.
Nach einigen Minuten drehte sich Chris zu mir und sah mich an. Sein Blick war ganz ruhig. Auch ich sah ihn an. Mein Blick war nicht so ruhig. Rede Junge, ging es mir durch den Kopf.
Das tat er: „Darf ich dich Dad nennen?“ Seine Stimme war leise, fast flüsternd.
Mir schoss das Adrenalin in den Kopf. Dad? Ich? Wer, zum Teufel, möchte so einen Sohn haben? Also antwortete ich: „Nein, ich bin Bob. Alles klar?“ Grenze gezogen. Sofort machte Chris sie wieder zunichte: „Viele Kinder nennen ihre Dad beim Vornamen. Das ist modern. Bob ist in Ordnung. Wenn du es so lieber hast, Bob.“
Jetzt hatte er meinen eigenen Namen zu

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