Vier minus drei
wieder wichtig. Die Betroffenheit hatte sich irgendwo im Alltagsgeschehen verflüchtigt. Überraschte mich das wirklich?
Ein Teil von mir konnte das alles gut verstehen.
Ein anderer Teil aber fühlte sich maßlos enttäuscht.
»Am Anfang standen alle Schlange, um mir zu helfen. Jetzt, wo ich sie nötig hätte, dringender vielleicht als
je zuvor, ist niemand mehr da. Ich bin so allein«, heulte ich.
Ulrich tat mir leid. Es schien, als müsste er plötzlich all die Unterstützung bieten, die sich noch vor Kurzem eine ganze Gruppe von Nachbarn und Freunden aufgeteilt hatte. Es war uns beiden klar, dass er das nicht leisten konnte.
»Du hast dir ganz schön viel eingehandelt mit mir.«
Ich fühlte mich nur noch als Belastung. Für Ulrich. Für jene, die keine Zeit hatten und darüber selbst nicht glücklich waren. Für meine Freundin, die Stunden opfern würde, um mir zu helfen. Viele Stunden, und doch viel zu wenige, um jemals fertig zu werden.
Ich war ratlos. Hilflos. Planlos.
Ein Zustand, auf den das große schwarze Loch wohl nur gewartet hatte.
Boxenstopp
Samstag, 12. Dezember 2008, nachmittags, in Wien
Es wird gerade finster. Dick eingepackt sitze ich auf meinem Fahrrad und bringe die Wochenendeinkäufe nach Hause. Ich bin müde. Erschöpft. Schon seit Tagen.
Gleich darfst du ins Bett. Gleich hast du es geschafft.
Beim Fahren gehe ich die Einkaufsliste im Kopf noch einmal durch. Habe ich alles besorgt?
Mist. Ich habe die Milch vergessen und die Eier.
Noch fünf Minuten bis Geschäftsschluss. Ich bleibe stehen, will mitten auf der Straße umdrehen. Autos bremsen, hupen. Auf einmal erfasst mich das Gefühl, dass ich mich nur noch in Zeitlupe bewegen kann. Ich erlebe das manchmal im Traum, aber jetzt bin ich wach und es ist wahr. Der Bioladen scheint endlos weit weg. Die Schwerkraft hat sich vervielfacht.
Kann ich mich einfach hier auf die Straße legen und schlafen?
Schweiß rinnt mir aus den Poren, ich zittere. Beginne zu weinen, zu schluchzen. Mit letzter Kraft gelingt es mir, mich und mein Fahrrad nach Hause zu bringen.
Es ist aus. Ich gebe auf .
In Ulrichs Wohnung schaffe ich es gerade noch, meine Verzweiflung in Worte zu fassen:
»Ich lege mich jetzt ins Bett und stehe nicht mehr auf, nie mehr!«
Rasch noch mein Handy abhören. Nur ja keine offenen Angelegenheiten liegenlassen, bevor ich auf unbestimmte Zeit verreise, an einen Ort, wo ich nicht zu erreichen bin. Ins Bett.
Sieben neue Nachrichten. Ich liege im Bett und höre die Mailbox ab. Lösche eine Nachricht nach der anderen.
Nichts Wichtiges bisher, Gott sei Dank.
Die letzte Nachricht. Endlich.
Gleich ist Ruhe, gleich ist es vorbei. Wer spricht?
»Bundespolizeidirektion Wien. Wir bitten um dringenden Rückruf. In Ihr Auto wurde eingebrochen!«
»Ulrich!«
Ich schaue starr auf meine Hand, in der das Handy zittert. Fühle mich zu keiner Regung mehr fähig. Sehe mir von außen zu und frage mich, ob das, was ich jetzt habe, ein Nervenzusammenbruch ist.
Ja, ich hätte gern einen. Ich würde gern schreien, mir selbst wehtun, einfach wahnsinnig werden. Wie im Kino. Ich hätte doch alles Recht dazu, keiner würde es mir übel nehmen.
Können nicht ein paar Männer in Weiß kommen und mich abtransportieren, in ein schönes weiches Bett? An einen Platz, wo niemand mehr etwas von mir will?
»Ich will einen Vormund! Ich bin unzurechnungsfähig«, stöhne ich schwach.
Ulrichs sanftes Lächeln irritiert mich.
Ich meine es ernst!
»Komm, wir rufen die Polizei an. Sag mir die Nummer.«
Wie bitte?! Ich habe einen Nervenzusammenbruch, noch nicht kapiert?
»Ich will nicht.«
Ulrich hält den Telefonhörer schon in der Hand.
»Die Nummer.«
Ich gehorche. Warum, weiß ich nicht. Vielleicht, weil Ulrich Stimme so unbestechlich wirkt, so kräftig, fast fröhlich?
Er wählt. Als sich am anderen Ende der Leitung jemand meldet, drückt er mir schnell den Hörer in die Hand. Mein Kopfschütteln, so heftig es auch ist, ignoriert er einfach.
»Polizei 1030, ja bitte?«
Ich will heulen. Ich will ins Bett.
»Hallo, wer spricht denn da?«
Ich muss antworten. Muss ins Parkhaus fahren. Mein Auto an einen sicheren Ort bringen. Eine Scheibe ist zerschlagen, das Navigationsgerät wurde gestohlen.
Der Nervenzusammenbruch muss warten.
Endlich, nach Stunden, sitze ich mit Ulrich bei einer Portion Fleischlaibchen vom Wirt nebenan. Ich habe einen Bärenhunger.
»Wie geht es deinem Nervenzusammenbruch?«
»Der kann warten, bis ich fertig
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