Vier minus drei
bereit, für einen neuen kleinen Menschen da zu sein? Oder wünsche ich mir unbewusst meine Kinder zurück und wäre enttäuscht über ein Wesen, das weder Thimo noch Fini ist? Ich kann diese Frage noch nicht mit Sicherheit beantworten. Oft ertappe ich mich dabei, dass ich Kinder
auf der Straße beobachte. Keines dieser Kinder scheint mir so schön, so süß zu sein wie die meinen. Wird es nötig sein, Thimo und Fini ein wenig zu vergessen, ehe ich bereit bin für ein neues Kind? Auch darauf habe ich noch keine eindeutige Antwort. Ich vertraue jedoch auf die Zeit und auf mein Herz, das mir schon so oft den Weg gewiesen hat.
Manchmal erzähle ich mir selbst eine Geschichte, dann, wenn die Welt hinter der gläsernen Wand mich allzu sehr lockt. Willst du sie hören?«
Klar.
»Gut. Kennst du die gläsernen Labyrinthe im Vergnügungspark?
Bevor ich Ulrich kennenlernte, stand ich in einem solchen Labyrinth und hatte nur ein Ziel, einen Ausgang vor Augen:
Ich will ein Kind .
Ich probierte alle Wege aus, die ich entdecken konnte, kam jedoch immer wieder zu meinem Ausgangspunkt zurück. Einen einzigen Weg mied ich, und der hieß Partnerschaft . Er schien mir nicht sinnvoll, zu unübersichtlich, zu beschwerlich. So weit ich es überblicken konnte, führte er nicht einmal in Richtung des heißersehnten Ziels.
Der Mann, der in mein Leben trat, machte mir Mut, den Weg zu beschreiten, den ich mir selbst verboten hatte. Er nahm mich an der Hand und blieb an meiner Seite. Anfangs konnte ich nicht umhin, auf das Ziel zu schielen.
Halt, ich glaube nicht, dass das hier der richtige Weg ist. Schau doch, wir gehen in die falsche Richtung! Ich glaube, du hast nicht das gleiche Ziel wie ich!
Nach und nach jedoch begann ich mich ein wenig umzusehen auf dem Weg. Er war heller als die anderen, breiter, abwechslungsreicher. Außerdem tat es gut, nicht allein zu gehen. Die Bedeutung des Zieles rückte mehr und mehr in den Hintergrund. Ich wandte mich meinem Begleiter zu und genoss jeden Schritt, den ich mit ihm tat. Nach und nach verlor ich sogar das Gefühl, in einem Labyrinth gefangen zu sein.
Die verschlungenen Pfade führten uns zwischendurch weit weg von dem, was ich ursprünglich für mein Ziel gehalten hatte. Gleichzeitig erkannte ich, dass es viele Ziele gibt und noch viel mehr reizvolle Wege. Wohin sie uns führen werden, wird sich noch zeigen. Manchmal winke ich dem Torbogen mit der Aufschrift Kind zu, wenn ich in seine Nähe komme.
Ich komme später wieder vorbei.
Momentan macht mir das Spazieren gar so viel Spaß.«
Ein großer Schritt
Mit hellem Kerzenschein hatte der Dezember Einzug gehalten.
Seit fast neun Monaten war meine Familie nun tot.
Und ich? War ich wieder am Leben? Hatte das, worauf ich meine Existenz gründete, wieder ein stabiles Fundament erhalten? Wie ging es den wackelnden Dominosteinen, deren Fall ich aufzuhalten versucht hatte, mit aller Kraft? Welche von ihnen waren noch übrig?
Da war mein Haus. Ein Dominostein, der kurz davor war, aus dem Spiel zu verschwinden. Meine Vermieterin hatte den Kaufvertrag zurückgezogen, und mittlerweile war ich darüber eher froh. Der Keller war nass, der Garten zu groß, in den Leitungsrohren nisteten Scharen von Motten, Fliegen, Marienkäfern. Ulrich konnte Rasen mähen, aber ein Haus renovieren, das konnte er beim besten Willen nicht.
Mein Herz wohnte ohnehin seit Monaten in Wien, bei meinem neuen Partner. In Ulrichs Haus war gerade eine helle, freundliche Wohnung freigeworden, gerade groß genug für mich und einige Kisten voller Erinnerungsstücke.
Würde ich mich wohlfühlen in der großen Stadt, die ich vor zwölf Jahren verlassen hatte? Würde es mir gelingen,
meine Freunde in der Steiermark nicht aus den Augen zu verlieren? Würden meine drei Engel mich begleiten?
Sei mutig! , flüsterte mir Helis Stimme zu. Wage einen Neuanfang.
Ich unterschrieb den Mietvertrag, bevor ich es mir anders überlegen konnte.
Ein neuer Mann. Eine neue Wohnung. Zwei zu Null für den Hellseher.
Meine Arbeit im Krankenhaus. Ein weiterer Dominostein. Ich hatte mein Kostüm gewechselt, eine neue Clownfigur erfunden. Dick, ausgestopft, rasant und fröhlich.
Eine dicke Schicht Watte zwischen mir und den Kindern. Ein Lachen, das die Trauer verscheucht. Ein Tempo, das mir keine Zeit zum Nachdenken lässt.
Mein Umzug nach Wien schien mir nebensächlich. Es musste möglich sein, zweimal die Woche in die Steiermark zu pendeln. Dabei konnte ich auch gleich meine Freunde
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