Vier minus drei
klar geworden.«
Aha.
Ich nicke, schweige. »Einiges«, das lässt sich nach Aufstellungsseminaren meist schwer erklären, so weiß ich aus Erfahrung. »Einiges«, das heißt meistens so etwas wie: Wenn mir der Aufstellungsleiter nicht davon abgeraten hätte, über die Aufstellung zu sprechen, würde ich dir jetzt
liebend gern meine gesamte Familiengeschichte erzählen, angefangen bei der Geburt meiner Urgroßmutter. Dann würdest du verstehen, warum ich so bin, wie ich bin. Warum ich gar nicht anders kann, als so zu sein, wie ich bin. Warum ich manchmal launisch bin oder jähzornig. Dann würdest du verstehen, dass ich gar nichts dafür kann, wenn ich etwa zu dir sage:
»Ich möchte dir den Sessel zurückgeben. Ich will nämlich keine Möbel von toten Kindern .«
Wie bitte?! Dieser Satz ist echt. Laut ausgesprochen, klar und unverblümt. Brutal wie man es manchmal lernt, in Aufstellungsseminaren.
Ich ringe um Fassung. Muss irgendetwas sagen.
Spinnst du?, möchte es aus mir herausplatzen. Ist das jetzt ein Nerventest? Hast du kein Herz, keine Seele, keinen Verstand!?
»Äh, ja, klar, bring ihn einfach zurück«, winsle ich stattdessen. Versöhnlich. Resignierend.
Feige.
Und verabschiede mich schnell, bevor ich Gefahr laufe, loszubrüllen und irgendjemandem die Zähne einzuschlagen.
Zu Hause möchte ich am liebsten sieben Freundinnen zugleich anrufen. Mich ausheulen. Mitleid ernten. Die blöde Kuh verpfeifen.
Ich erreiche niemanden. Vielleicht ist es auch besser so. Was sollen mir tröstende Worte schon bringen? Sandra hat Ungeheuerliches gesagt, das ist richtig. Darüber kann ich mich echauffieren, dafür kann ich ihr böse sein. Doch
der Schmerz in mir geht tiefer. Mehr noch als Sandras direkte Wortwahl schmerzt mich, dass sie fühlt, was sie fühlt. Sie will Thimos Kindersessel nicht. Doch kann ich sie dafür wirklich verurteilen? Glaube ich ihr vorschreiben zu können, was sie zu empfinden hat? Vielleicht ist Sandra ja nicht die Einzige, die Berührungsängste mit den Besitztümern von Toten hat. Eine andere Freundin fällt mir ein, deren Lächeln etwas säuerlich wirkte, als ich ihr vor einigen Tagen Finis Kleidung überreichte, für ihr ungeborenes Kind. Der Flohmarkt, den ich veranstaltet hatte. Die vielen Kindersachen, die übrig geblieben waren …
Ist es möglich, dass der Tod meiner Familie sich wie ein ansteckender Film über ihre Habseligkeiten gelegt hat? Sind Kleidungsstücke, Bilderbücher, Bauklötze über Nacht leichenblass und modrig geworden? Die bunten Schachteln, die darauf warten, in gute Hände zu kommen – enthalten sie mehr als nur Spielzeug?
Ja, vermutlich. Sie verbergen Erinnerungen. Sie werden mit jedem Öffnen die Wahrheit preisgeben, dass der Tod allgegenwärtig ist. Dass ein Mensch, der jetzt gerade lacht, schon morgen regungslos im Sarg liegen kann.
Der Ärger über Sandras Worte verblasst langsam.
Ich weiß doch kaum etwas über sie. Vielleicht ist es im Moment wichtig für sie, den Tod zu verdrängen. Wer weiß, vielleicht war ja Thimos Lehnsessel der Auslöser dafür, dass sie zur Aufstellung gefahren ist. Womöglich hat sie dort etwas über sich gelernt, zum Beispiel, was sie momentan alles nicht ertragen kann. Somit hat mein Geschenk seinen Zweck erfüllt, wenn auch anders, als ich es mir gewünscht hatte.
Am selben Abend bekomme ich eine SMS von Sandra. Sie macht sich Vorwürfe, schreibt, dass sie sich nicht unter Kontrolle hatte, und entschuldigt sich mehrmals.
»Es ist alles gut«, schreibe ich ihr zurück.
Auch sie hat mir heute etwas beigebracht: Jeder Mensch hat seine eigene Weise, dem Tod zu begegnen. Oder ihm bewusst nicht zu begegnen. Und auch das ist in Ordnung.
Dennoch, ich bin all jenen dankbar, die keine Berührungsängste hatten mit dem Tod.
Amira, die sich Finis Puppe am Tag des Seelenfestes erbettelte und sie heute noch in Ehren hält. Annas Kindern, die täglich auf Thimos Fahrrad herumflitzen und dabei rote Backen bekommen. Ulrich, der Helis Winterpullover überzieht, wann immer ihn fröstelt.
Und all den vielen, vielen anderen.
Die meisten meiner Freunde hatten also vermutlich keine tieferen Hintergedanken, sondern schlicht und einfach keine Zeit. Damals, im Advent. Die Schachteln, die ich während des langen Sommers nicht ausgeräumt hatte, konnten eben nicht an einem einzigen Wochenende geleert werden. Nicht einmal, wenn ich es Notfall nannte. Dringend. Nur noch dieses eine Mal.
Die Welt hatte sich weitergedreht. Anderes war
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