Vier minus drei
alle«, gebe ich zu. »Vielleicht … habe ich es ja nur selbst so erwartet? Erhofft? Vielleicht bin ich diejenige, die einsehen muss, dass mich der Trauerprozess immer wieder aufs Neue fordert und noch lange nicht ganz vorbei sein wird?«
Werner nickt.
Mein Blick möchte schon wieder in Richtung Decke wandern.
Nichts da. Zeit, den Tatsachen ins Gesicht zu sehen.
»Darf ich mich auf die Matratze kuscheln?«
»Regressionsecke«, so nenne ich manchmal scherzhaft die Polsterlandschaft in Werners Praxis, auf die ich nun übersiedele. Inmitten der weichen Kissen, an die gepolsterte Wand gelehnt, die mir Rückhalt gibt, fällt es mir leichter, tiefe Geheimnisse auszusprechen.
»Manchmal bin ich richtig froh, wenn ich wieder einen Zusammenbruch habe. Dann ist wenigstens alles klar. Dann versteht mich jeder, keiner verlangt etwas von mir. Aber, weißt du, langsam habe ich es satt, mich immer wieder auf mein Trauma herauszureden.«
»Du meinst, du benutzt deine Trauer als Ausrede?«
»Ja. Es kommt mir so vor, als wäre Heli mit einem riesigen Blankoscheck in den Händen in den Himmel entschwebt: ›FÜR DIE NÄCHSTEN VIER JAHRE BIN ICH AN ALLEM SCHULD!‹
Ich kann diesen Scheck überall einlösen. Alle respektieren meinen Kummer. Meinen Schmerz. Sogar ich selbst akzeptiere den Scheck, obwohl ich es eigentlich besser wissen müsste.«
Wieder dieser Blick. Geduldig. Ermutigend. Ich fahre fort:
»Mein Leistungsdruck. Mein Problem, Hilfe nicht annehmen zu können. Das Gefühl, mir die Liebe meiner Freunde verdienen zu müssen. Mein Bedürfnis nach Ruhe. Meine Versagensängste. Das alles war doch schon lange vor dem Unfall da. Der Tod meiner Familie hat einfach nur ein Vergrößerungsglas auf die Ängste gelegt, die ich früher auch schon hatte. Ich bin sensibler geworden und verletzlicher. Kann meine Probleme nicht mehr so leicht verdrängen. Aber ich möchte sie nicht mehr Heli in die Schuhe schieben. Oder meinem Trauma. Ich möchte sie lösen . Den Blankoscheck, den brauche ich nicht mehr.«
»Vielleicht behältst du ihn noch für eine Weile. Sicherheitshalber?«
Werner kennt mich gut. Er weiß, dass ich gern fünf Schritte auf einmal nehme.
»Ja, du hast Recht. Heli wird sich schon etwas dabei gedacht haben, dass er mir den Scheck hinterlassen hat. Es ist nur fair. Er hat mir ja auch einen dicken, unsichtbaren Rucksack zurückgelassen und jede Menge echten Schmerz.«
»Das will ich wohl meinen. Wenn du auch manchmal den Schmerz als Erklärung heranziehst für komplexere Gefühle – für dein Bedürfnis nach Ruhe, das du dir nicht gestattest, zum Beispiel -, so ist er doch oft genug real. Vergiss das nicht.«
»Sagen wir so: Der Scheck ist teilweise gedeckt.«
»Genau.«
Ich muss lachen. Ein sicheres Zeichen, dass die Stunde fast vorbei ist. Wie schafft Werner es nur, dass meine Mundwinkel immer pünktlich fünf Minuten vor Ende der Sitzung nach oben gehen?
»Und um das, was im Vergrößerungsglas erscheint, kümmern wir uns beim nächsten Mal?«
»Ja. Beim nächsten Mal. Und immer wieder. Du hast alle Zeit der Welt.«
Viele Stunden haben wir schon damit verbracht, durch das Vergrößerungsglas zu blicken, und wir werden vielleicht noch Jahre damit zubringen. Ich lerne langsam, die Situationen zu entlarven, in denen ich mich des Blankoschecks bediene. Ich beginne, Sätze auszutauschen.
Es geht mir zu schlecht, um irgendjemanden zu sehen?
»Ich brauche Ruhe.«
Ich kann momentan nicht als Clown arbeiten?
»Ich sehne mich nach neuen Herausforderungen. Die Trauer ist in mein Leben getreten, und es erscheint mir nicht passend, bei meiner Arbeit immer lachen zu müssen.«
Ich muss unbedingt ein Kind bekommen, schon morgen?
»Ich sehne mich nach Vitalität. Nach einer Rolle, in der meine Lebenskraft ihren Ausdruck findet. Ich werde … mehr Sport machen. Tanzen.«
Ich bin eine Tänzerin .
Ja, das klingt gut.
Weitergehen
20. März 2009 – Denken an Heli
Wenn du heute traurig bist,
weil ein geliebter Freund nicht mehr in deiner
Nähe ist,
schau all die an, die du liebst und die dich umgeben.
Sei fröhlich in jedem Augenblick ihrer Gegenwart.
Umarme sie fest, und umarme dabei auch deinen
Freund.
Er ging, um uns die Augen und das Herz zu
öffnen
für das, was wir haben.
Erfreue dich daran, um ihn zu erfreuen.
Wenn du sein Lachen vermisst und seine Worte,
die stets alles Schwere von deinen Schultern genommen
haben,
freu dich an all den lustigen Geschichten,
die du im letzten
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