Vier minus drei
einen unsichtbaren Rucksack trug. Dass ich krank und bedürftig war, obwohl ich nach außen hin lachte.
»Können Sie mir nicht einen Ausweis ausstellen, den ich mir an die Brust heften kann?«, fragte ich bald darauf meine Hausärztin.
»Einen Ausweis?«
»Ja. Er könnte die Leute darüber informieren, dass ich eine unsichtbare Krankheit habe.«
In der Luft skizzierte ich, wie er aussehen sollte:
ACHTUNG. TRAUMA.
1. Diese Frau WIRKT nur so, als ob sie normal wäre.
2. Sie macht einen intelligenten Eindruck, scheitert jedoch an den einfachsten Aufgaben: Mails beantworten. Formulare ausfüllen. Smalltalk. Termine einhalten. Eine Meinung äußern.
3. Fragen Sie die Patientin NICHT, ob Sie ihr helfen sollen. Helfen Sie einfach.
4. Fragen Sie die Patientin NICHT, wie es ihr geht!
5. Wundern Sie sich nicht, wenn die Patientin freundlich zu Ihnen ist und sich dann trotzdem wochenlang nicht meldet. Das ist Teil des Krankheitsbildes und kann Monate dauern.
6. Falls Ihnen die Patientin etwas verspricht, nehmen Sie es NICHT ernst! Rechnen Sie mit Enttäuschungen. Versuchen Sie, die Patientin ernst zu nehmen, und nehmen Sie dennoch nichts, was sie sagt, wirklich ernst. Sie kann morgen schon alles anders meinen.
7. Fragen Sie die Patientin NICHT, was sie essen will. Kochen Sie. Irgendetwas. Sie wird es essen.
8. ACHTUNG: Der Satz »Es ist doch nicht so schlimm« kann zu äußerster Verunsicherung und sofortigem depressivem Rückzug führen.
9. Falls die Patientin erklärt, sie stehe kurz vor der Einlieferung in ein psychiatrisches Krankenhaus: Bringen Sie die Geduld auf, Notfallnummern zu recherchieren. Rufen Sie jedoch NICHT an. Wundern Sie sich nicht, wenn die Patientin nach fünf Minuten wieder lacht.
Schon bei den letzten Sätzen hatte ich zu kichern begonnen. Nun, da ich fertig war, lachten wir beide, meine Ärztin und ich. Ihr Rat kam von Herzen:
»Hören Sie nicht auf zu lachen. Schreiben Sie sich selbst einen Ausweis, zur Not auch jeden Tag einen neuen. Wenn Sie wollen, können Sie ihn ja in die Handtasche stecken.«
Kein ärztlicher Ausweis. Kein Umhängeschild. Verzagt war ich trotzdem. In meiner Fantasie saßen all meine Freunde den ganzen Tag lang neben dem Telefon und warteten auf meinen Anruf. Darauf, dass ich mich endlich wieder meldete und mich revanchierte für all das Gute, das sie für mich getan hatten. Darauf, dass ich endlich wieder normal wäre. Eine gute Freundin, ein zuverlässiger Mensch.
Meine Einbildungskraft hatte noch andere unangenehme Bilder parat.
Deine Clownkollegen sind frustriert, weil du immer wieder Termine absagst. Außerdem bist du in letzter Zeit nicht mehr wirklich kreativ. Kein lustiger Clown. Wie lange soll das noch so weitergehen? Du meidest alle Sozialkontakte, beantwortest die Mails deiner Freunde nicht … meine Liebe, du bist dabei, den Bogen zu überspannen. Deine Familie ist fast ein Jahr tot. Jeder erwartet, dass es jetzt wieder bergauf geht, langsam, aber sicher.
Ich war niedergeschlagen. Die Szenarien, die sich meine Fantasie ausdachte, schienen mir mehr als plausibel. Doch mein Bedürfnis nach Stille und Rückzug war groß. Immer noch, mehr denn je.
»Wie soll ich den Menschen bloß erklären, dass es mir heute fast schlechter geht als vor fast einem Jahr? Trauer verläuft nicht linear, sie wird nicht ›langsam besser‹. Sie verläuft in Wellen, und wo man gerade noch ein herrliches Hoch erlebte, kann das Tal am nächsten Tag schon tiefer sein als je zuvor.«
Ich sitze bei meinem Therapeuten. Werner. Er betreut mich, seit ich in Wien wohne.
»Du bist ein sehr kluger Mensch«, hat er in einer der ersten Stunden zu mir gesagt. »Manchmal bist du etwas zu klug. Dann verknüpfst du Dinge in deinem Kopf, die nicht unbedingt zusammengehören. Es ist meine Aufgabe, diese Knoten zu entdecken und sie mit dir aufzulösen.«
» Wer meint denn, dass Trauer linear verlaufen sollte?«
»Alle! Jeder, der es selbst noch nicht erlebt hat.«
Werner schweigt. Ich kenne den Blick, mit dem er mich ansieht. Ein Blick, der auf mehr wartet.
Auf Präzisierungen, auf Beispiele.
Beispiele …
Mir fällt kein Beispiel ein. Kein Name. Niemand, der je behauptet hätte, dass meine Trauer nicht »richtig« verläuft. Auch ich schweige. Mein Atem geht laut. Ich schaue in die Luft. Ein sicheres Zeichen dafür, dass ich versuche, mich zu drücken. Das habe ich ebenfalls von Werner gelernt, und es fällt mir mittlerweile sogar selbst auf.
»Also, vielleicht doch nicht
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