Vier Tage im August
man behutsam eine Maske über sein verletztes Gesicht und schloss ihn an ein Gerät an. Jemand kümmerte sich um die Frau, die ganz verstört war, legte ihr den Arm um die Schultern und führte auch sie zum Rettungswagen.
Der Inder konnte das nicht im Detail beobachten, denn ein Polizist bat ihn, sich zu ihm in den Streifenwagen zu setzen. Lieber nicht, hatte der Inder gesagt. Er steckte die Daumen in den Gürtel und schaute mit skeptischer Miene dem langsam mit Blaulicht wegfahrenden Rettungswagen hinterher, bevor er den Polizisten bat, ihm ins Hotel zu folgen, an die Rezeption.
Ist der Mann schwer verletzt, fragte der Inder und trank Bier aus der Flasche.
Der Polizist schaute ihn an: Ich weiß es nicht.
Die beiden… es waren sehr angenehme Gäste…
Sie sind also der Zeuge?
EMILY FREUTE SICH AUF DEN WETTKAMPF in Hamburg und auf die Sportschule mit einem Sprungturm im Freien, sie würde das nutzen, war bereit, sich zu schinden, und wenn die Konkurrentinnen schlappmachten, würde sie nochmals einen Zacken zulegen. Schon auf der Leiter, während sie auf den Turm kletterte, löschte sie alle Gedanken. Sie betrat einen Tunnel, Licht am Ende. Jeder Anflug eines Gedankens hätte schädliche Folgen. Vollkommen gesammelt stand sie auf der Plattform. Sobald sie nach vorn zur Kante schritt und dort auf die Fußspitzen stieg, zählte nichts anderes mehr als die vorgeschriebene Abfolge des gewählten Sprungs. Die Figur erschien vor ihrem inneren Auge, eine visuelle Form, in die sie ihren biegsamen Körper nur noch zu gießen hatte.
Emily ging in die Küche, um frischen Eistee zu holen. Die Küche sah nicht gerade toll aus. Schmutziges Geschirr stapelte sich in der Spüle, die Maschine war überfüllt, Gläser hatten rosa Ränder von Lipgloss, aufgerissene Verpackungen bedeckten den Tisch, die Überbleibsel einer exotisch anmutenden Essenszubereitung.
Gestern hatte Emily eingekauft, um Iris und Paul mit Sushi zu empfangen. Davon lagerte nun mehr als genug im Kühlschrank. Tellerweise Sushi. Ohne hungrig zu sein, kostete sie davon. Kochen war nicht gerade das Fach, in dem sie glänzte; dennoch war ihr Sushi sagenhaft, mehr als nur berühmt, weltberühmt, laut Borems Loblied auf Facebook einsame Spitze. Borem hatte die Sushi fotografiert und ins Internet hochgeladen. Darüber freute sich Emily. Borems Auftritt auf Facebook führte ihr aber auch vor Augen, wie rasch ihr Freund entflammte, unfähig, vielmehr nicht willens, eine Sache objektiv zu beurteilen. Eine Sportlerin musste ihre Mängel erkennen, eigene Fehler eingestehen und nüchtern analysieren, Emily durfte sich nicht selbst bemitleiden. Ironie und dumme Witze halfen ihr nicht weiter.
Borem war da ganz anders.
Ihre Familie bewies zu wenig Zusammenhalt; es fehlte der Kitt, glaubte Emily und redete sich ein, die Eltern hätten sich gegen sie verschworen, Vater und Mutter interessierten sich überhaupt nicht für das Leben der gemeinsamen Tochter, ihr Leben sei ihnen egal. Das war der springende Punkt. Die Eltern dachten niemals an Emily und liebten sie zu wenig. Iris und Paul hatten keinen Familiensinn. In Italien hatten sie Emily sogar vergessen. Sie waren vielleicht ein glückliches Ehepaar, aber sie machten ihre Tochter unglücklich.
Ihr Bruder Tom und sein leiblicher Vater Ivo Blume waren Männer, mit denen sie über alles reden konnte. Toms Vater verstand Emily besser als ihre Eltern, in seinem Haus am See hatte sie ein eigenes Zimmer einrichten dürfen, dorthin zog sich Emily zurück, wenn sie Abstand benötigte. Ivo erkannte in ihr vielleicht auch ein bisschen die Tochter, die er mit Iris nicht hatte haben dürfen. Auf Fotos fiel jedermann auf, dass Emily ihrer Mutter als Teenager wie aus dem Gesicht geschnitten war.
Und Tom? Emily teilte mit seinem Vater die Meinung, die Doktorarbeit zu vernachlässigen und eine Auszeit zu nehmen, sei Leichtsinn. Tom sollte Gas geben. Aber er, auf bestem Weg, ein Tolstoi-Experte zu werden, war aus der Spur geraten. Zuletzt war ihm in Anna Karenina das Erröten der Männer aufgefallen. Ein Detail? Alle paar Seiten, hatte er notiert, wird einer der Herren feuerrot, ein hoher Beamter, ein junger Offizier, ein adeliger Gutsbesitzer, ein alternder Fürst… niemals aber ein Bauer. Haben Bauern kein Schamgefühl, keine Seele?
Warum war Tom das fragwürdige Detail bisher nie aufgefallen, warum hatte er diese verräterischen Stellen jahrelang überlesen?
Wo sind Tolstois Helden am glücklichsten?
Mit solchen Reduzierungen
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