Vier Tage im August
nervte ihn seine Mutter. Sie hatte die Romane auch gelesen, lange vor Tom. Er schwieg, und Iris schwafelte munter drauflos: Auf der Schnepfenjagd. Beim Herumballern vergessen die Männer alle Probleme, die Schnepfenjagd ist ihr Glück.
Der Frage, warum seine Tolstoi-Studie ins Trudeln geraten sei, wich Tom aus. Er verschloss seine Überlegungen in sich. Anscheinend nutzte er den Tag und viele lange Nächte, wenn er nicht als Kostümläufer unterwegs war, am liebsten, um zu schreiben, um Geschichten auszutüfteln und zu gestalten und zu verwerfen. Erfundene Personen führten aus, was er sich ausdachte. Er steuerte ihre Gedanken, Gefühle und Handlungen. Das war bestimmt eine befriedigende Beschäftigung, nahm Emily an. Dabei war es doch ein erheblicher Unterschied, ob man Dinge auf einem Blatt Papier regelte oder in seinem richtigen Leben.
Tom hatte einen anderen Blick auf die Welt. Er interessierte sich brennend dafür, wie Gedanken kommen und gehen. Und das gelinge ihm ausgezeichnet, hatte er ohne ein Augenzwinkern erklärt, wenn er, den Kopf aus Pappmaschee über seinen eigenen Kopf gestülpt, als Clown durch die Stadt streife.
Nahm Tom die kleine Schwester auf den Arm? Emily vermutete, in seinen Augen eine Streberin zu sein. Der große Bruder neigte dazu, die Fantasie ausufern zu lassen. Dachte sie. Doch sie durfte ihn nicht zu streng beurteilen. Es wäre ungerecht. Auch Tom ahnte, was er erreichen wollte, zumindest in lichten Momenten. Im Gegensatz zu ihm hatte Emily jedoch begriffen, wie die Krone zu erringen war. Sie wusste, wann man mit Spinnen und Tagträumen und mit dieser ewigen Herumsucherei aufhören musste und echte Ergebnisse abzuliefern hatte.
Sie hatte ihm das gesagt, ins Gesicht.
Du bist dreißig und noch nirgendwo angekommen.
EMILY HATTE IN DEN VERGANGENEN zwei Wochen auch gute Tage erlebt, es hatte ihr gefallen, die Wohnung ganz für sich zu haben.
Nicht ohne Herzklopfen durchstöberte sie Schränke, die sie bisher kaum beachtet hatte, öffnete Türen und betrat Räume, als hätte sich die Wohnung in ein neu zu eroberndes Terrain verwandelt. In Mutters Zimmer erweckten die blau unterstrichenen Stellen und kaum entzifferbaren Randbemerkungen in Büchern ihre Neugier, ebenso die Briefe in sorgfältig aufgeschnittenen Umschlägen, die herauszunehmen und zu lesen sie sich jedoch scheute. Das gläserne Regal mit der Schildkrötensammlung hatte sie schon als Kind bestaunt. Ebenso ein gerahmtes Foto. Die Mutter mit ihrem ersten Mann. Zwischen Iris und Ivo Blume zog Tomy, das dreijährige Söhnchen der beiden, eine Schnute.
Dann schlich sich Emily ins Schlafzimmer der Eltern. Ob sie im Nachttisch Kondome aufbewahrten? Iris nahm die Pille nicht mehr. Dass ihre Eltern wahrscheinlich noch Sex hatten, war in der Umkleide der Springerinnen ein Igitt-Thema. In Pauls Büro, auf dem Schreibtisch, lag ein kleiner Meteorit. Er hatte die Form einer prähistorischen Pfeilspitze, sah aus wie mit den Daumen geknetet und lag schwer in der Hand. Emily hatte den Meteoriten einmal in die Schule mitnehmen dürfen. Alle Kinder und die Lehrerin hatten ihn bewundert und berühren wollen. Auf einer Konsole standen Pokale aus Vaters Zeit als Ruderer, Trophäen von Wettkämpfen, die er nie erwähnte. Auf einem Foto waren vier Männer und eine Frau mit raspelkurzem Haar zu sehen, alle hatten die Aufnahme signiert. Die Wohnung, spürte Emily, gehörte sogar mehr ihren Eltern, wenn sie abwesend waren, als wenn sie da waren.
Die asthmatische Katze war ihr in Vaters Zimmer gefolgt, sein verwöhnter Liebling, sie hatte ihren liebsten Schlafplatz auf seinem Schreibtisch.
Der Balkon, auf dem Emily ihr Gleichgewicht schulte und Dehnübungen machte, war Mutters Domäne, sie zog hier afrikanische Gewächse mit Beeren, auf die, zum Leidwesen der Nachbarn, der Rotschwanz scharf war. Er schied die Kerne in ihren Gartenparadiesen aus und verbreitete die Pflanzen in der stillen Siedlung, wo jeder jeden leben ließ, mit freundlicher Gleichgültigkeit.
Gestern hatte Borem sie unerwartet besucht, am späten Nachmittag war er locker hereinspaziert, den iPod eingestöpselt. Er hatte sich neben die Katze auf den Küchenboden gesetzt, eine Dose Energydrink in der Hand, während Emily Sushi fabrizierte. Sie hatte den kalten weißen Reis auf Blätter aus Seetang verteilt, Zutaten vorbereitet, Fisch, Gemüse in Streifen geschnitten und plötzlich seinen Blick gespürt. Borem war nicht nur mit seinem Drink und der Katze, die er am Hals kraulte,
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