Vier Tage im August
Kraft. Emily ging in die Hocke. In dieser Stellung würde sie auf dem Board verharren, bis die Oberschenkel brannten. Sie fixierte einen Punkt, hielt sich mit dem Blick fest, um die tiefe Position halten zu können. Sobald sie die Augen schloss, verlor sie die Balance.
Das Training bestimmte Emilys Tag, alles diente dem Kunstspringen. Das Frühaufstehen gehörte dazu. Meistens fuhr sie mit der S-Bahn ins Trainingscenter, die Sportlerinnen hatten das Sprungbecken nur bis 9Uhr allein für sich, danach mussten sie das Bad mit dem Publikum teilen. Die Einheiten mit immer gleichen Übungen und Wiederholungen beengten sie manchmal wie ein Korsett. Auch war es umständlich, in einer ländlichen Gemeinde im Flughafengebiet zu wohnen, sie würde gern vom Dorf in die Stadt umziehen.
Am liebsten übte Emily auf dem Trampolin; auch Waldläufe boten eine Abwechslung zur Eintönigkeit der Halle, wo sie unter weißem Deckenlicht statt unter blauem Himmel ihre Sprünge einübte. Dazu gehörten Massagen und Physiotherapie. Es ging darum, sich so in Form zu bringen, dass sie am Tag X die optimale Leistung abrufen konnte. Mit Grazie. Mit vollkommener Hingabe. Ohne Hingabe könnte Emily sich nicht von einer Plattform, zehn Meter über dem Wasserspiegel, in die Tiefe stürzen. Vor den Augen der Jury. Im freien Fall. Mit Saltos und Schrauben und einem perfekten Einstich ins Wasser. Ohne einen Spritzer, kerzengerade, man könnte das mit einem Messgerät überprüfen.
Gestern hätten die Eltern von ihrem Sommerurlaub heimkehren sollen. Emily hatte zwei Wochen lang die Wohnung gehütet, die Katze versorgt, mit Asthmatabletten und Diät-Dosenfutter, sie war viel zu dick, sowie die Pflanzen bewässert, das von ihrer Mutter liebevoll gehätschelte Gestrüpp auf dem Balkon.
Heute musste sie selbst los, mit drei Freundinnen. Seit Kindesbeinen waren die Wasserspringerinnen fast täglich zusammen, am Gymnasium, in der Leistungsgruppe und in der knapp bemessenen Freizeit. Am Abend sollten sie in Hamburg einen Wettkampf bestreiten, anschließend nach Sachsen-Anhalt fahren. Das war der Plan. In einem Springerzentrum mit einem Turm im Freien durften sie drei Tage mit einem Trainer aus China arbeiten. Der Typ war als harter Knochen bekannt. Aber chinesische Springerinnen räumten auf jeder Meisterschaft Medaillen ab. Ohne ein Lächeln. Es hieß, er fessle sie mit einem Klebeband um die Knöchel so, dass sie die Beine gar nicht öffnen konnten. Emily musste auch für die Schule etwas tun und hatte nicht nur ihr Notebook, sondern auch ein paar Lehrbücher eingepackt. Das Lernen fiel ihr leicht. Sie hatte sogar Lesestoff in der Reisetasche, als Zerstreuung. Tom hatte ihr Anna Karenina geschenkt, seinen liebsten Roman, die neue Übersetzung, ein unverschämt dickes Buch.
Emily hatte vor Wut geweint. Kein Anruf von Iris, keine SMS von Paul, die beknackten Eltern waren einfach weggeblieben. Die Möglichkeit, dass jemand auf ihre Heimkehr wartete, sich am Ende gar Sorgen machte, und zwar aus Zuneigung, schienen sie nicht in Betracht zu ziehen. Emily wollte ihre Selbstbezogenheit nicht hinnehmen, das beleidigende Ausbleiben. Die Tochter hätte ihnen gern einen herzlichen Empfang bereitet, sie mit Sushis verwöhnt und sich dann von ihnen verabschiedet. Dass Emily nach Hamburg flog, hatten sie hoffentlich nicht vergessen. Leider traute sie ihnen auch diese Rücksichtslosigkeit zu. Emily wünschte sich mehr Anteilnahme. Den Eltern fehlte das Gespür für die Empfindsamkeit ihrer siebzehnjährigen Tochter, das Feingefühl für den ungeheuerlichen Druck, dem sie ausgesetzt war, den Erwartungen, denen sie gerecht zu werden suchte, Verständnis für ihre ungezählten Pflichtstunden. Die Eltern hatten nicht viel Ahnung, was das bedeutete: eine Kür, eine knappe Sekunde, die einem das Äußerste abverlangte.
Inzwischen hatte sie sich wie ein nasser Hund geschüttelt und war wieder entspannt. Bei ihrem Mental-Coach hatte Emily gelernt, jeden Ärger auszublenden. Alle Störfaktoren.
Emily entschied, Iris und Paul, die ihre Tochter offenbar nicht entbehrten, gleichfalls nicht zu vermissen, und sah sich in ihrem Beschluss, spätestens mit achtzehn von zu Hause auszuziehen, bestärkt. Eine verschworene WG stellte sich Emily vor, Freundinnen, auf die Verlass war, die alle nicht Wünsche hegten, sondern Ziele verfolgten. Sie hätten tröstende Worte füreinander, wenn eine unpässlich war, hektisch, unglücklich verliebt, wenn eine an einem entzündeten Gelenk
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