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Vier Tage im August

Vier Tage im August

Titel: Vier Tage im August Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvio Blatter
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vorn stand, an der Kante, tastete sich der Strahl erneut heran. Mit der Hand schützte Emily die Augen, fürchtete, den Sprung zu verpatzen, sich dabei zu verletzen.
    Sie sprang nicht, beschwerte sich bei der Jury.
    Nachher lief sie zum Ordner, der für die Tribüne verantwortlich war, und redete erbost auf ihn ein.
    Der Ordner bemühte sich dann, den gefährlichen Spinner ausfindig zu machen. Leider ohne Erfolg. Es gab keine Videoüberwachung. Nach dem Wettkampf ging er auf Emily zu, entschuldigte sich, und zu ihrer eigenen Überraschung willigte sie ein, als er sie zu einem Eis einlud.
    Seitdem kam Borem regelmäßig in die Halle.
    Er war hartnäckig, eine Klette.
    Emily übte seit Wochen einen neuen Sprung vom Turm ein. Eine Schraube mit höchstem Schwierigkeitsgrad. Ein tränenreiches Unterfangen; aber sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, mit diesem bisher nur von den Chinesinnen gezeigten Sprung die Landesmeisterschaft zu gewinnen. Wenn Emily im falschen Winkel eintauchte, gar mit einem Arm oder Schenkel auf dem Wasser aufschlug, tat das höllisch weh. Die Oberfläche war hart wie ein Straßenbelag, davon zeugten die blauen Flecken auf ihren Beinen.
    Emily weinte, sie fluchte, sie legte die Hände aufs Gesicht, sammelte sich, überwand sich und stieg zum Trotz nochmals auf den Turm. Was die überirdischen Chinesinnen vorlegten, musste auch für sie möglich sein.
    Der nächste Sprung, die elfte Wiederholung, es passte noch nichts zusammen.
    Sie übte eisern weiter.
    Em, du schaffst das, stachelte Borem sie an. Und wenn nicht, geht die Welt auch nicht unter.
    Borem hatte eben keine Welt, die untergehen könnte. Das öffnete eine Kluft zwischen ihnen; Emilys Welt konnte untergehen.

IRIS WUSSTE NICHT, ob Paul unter der Maske bei Bewusstsein war, aber er atmete, ja, und die Aufzeichnungen, die Wellenlinien auf den Monitoren, bewiesen ebenfalls, dass er lebte. Die Zeiger zitterten, sie standen nicht still. Die Lämpchen blinkten. Das war die Hauptsache. Der Arzt, der im Rettungswagen mitfuhr, wirkte gelassen, er machte alles mit Bedacht, und als er zu Iris, die hektisch atmete, sagte, ihr Mann werde den Angriff überstehen und bald wieder auf die Beine kommen, glaubte sie ihm, beruhigte sie das. Ihr Mann war medizinisch versorgt, ihr Mann war stabil, es bestand keine akute Lebensgefahr. Paul musste nicht in Genua sterben. Er wurde zwar mit Blaulicht und Sirene durch ein Labyrinth von besonnten Straßen und schattigen Gassen gefahren und in ein städtisches Krankenhaus eingeliefert, er stand unter Schock, seine Verletzungen würden noch genau untersucht werden müssen, aber sein Kreislauf drohte nicht zu kollabieren. Pauls Herz pochte, pochte etwas flach, aber stetig, es würde sich nicht plötzlich überschlagen.
    Alles im grünen Bereich.
    Nachdem Paul für weitere Abklärungen stillgelegt und von einem Pfleger in ein fernes Untersuchungszimmer gefahren worden war, zu dem sie keinen Zutritt hatte, sie hatte sich auch nicht besonders darum bemüht, sah sich Iris plötzlich selbst in einem fleckigen Spiegel, eine derangierte Frau, die einen fremden Pullover mit einem grellen Muster trug. Ohne genau zu wissen, wie sie dorthin gelangt war, stand sie in einer blassblau gekachelten Toilette und hörte Wasser rauschen. Das Klosett hatte eine altmodische Spülung, eine Kette, an der man ziehen musste. Alles roch scharf nach Putzmitteln, und ihr wurde plötzlich klar, dass auch sie selbst bei dem Überfall vor dem Hotel erwischt worden war und wie viel sie abgekriegt hatte, was alles nun fehlte. Sie hatte weder Kleider zum Wechseln, noch ein Handy, um Anrufe zu erledigen, besaß weder Geld noch einen Reisepass… die Tränen liefen ihr herab, während sie versuchte, sich behelfsmäßig zu reinigen, sie wusch das Gesicht mit kaltem Wasser, mühte sich mit dem eingetrockneten Blut auf ihrer Hose und der Bluse ab, alles wurde nur schlimmer.
    Eine Kammer auf der Nordseite, der Fußboden blank gebohnertes Linoleum, das Fenster ein Schlitz über Kopfhöhe. Auf einem gläsernen Tischchen stand als Lampe ein Papagei, ein Hohlkörper aus Kunststoff. Der farbige Vogel leuchtete. Iris saß allein in dem klinisch sauberen Warteraum, benommen, den Kopf voller Bilder, ein Tanz mit vorgegebenen Schritten, aber die Reihenfolge ergab wenig Sinn und hatte Lücken, sie musste das dringend besser ordnen, sie musste sich wieder zurechtfinden, neu orientieren. Auch in der Zeit. Wie viel Zeit war verstrichen, wie spät war es denn jetzt,

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