Vier Tage im August
gefunden. Er fuhr nun den Kleinbus einer Wäscherei, einen dunkelblauen Ford Transit, angenehm, bequem, gut in Schuss gehalten. Leo konnte ihn mit dem kleinen Finger der rechten Hand bedienen. Stundenlanges Fahren zog Leo auch nach seiner Rückkehr jeder anderen Berufstätigkeit vor. Dazu gehörte auch, den Bus am Abend zu waschen. Das Ritual befriedigte ihn. Das Zischen beim Abspritzen der Radkappen. Das Prasseln, wenn der Wasserstrahl auf die Karosserie traf und allen Schmutz auflöste.
Die Firma hatte sich auf Krankenhäuser, Alten- und Pflegeheime spezialisiert. Am liebsten fuhr Leo allein. Eine Stunde mit jemandem zu reden fiel ihm schwerer, als den ganzen Tag zu schweigen. Am ehesten ertrug er einen jungen Mann als Beifahrer. Er teilte Leos Vorliebe fürs Alleinsein, vermummt im Kapuzenpullover saß er da und funktionierte wie ein Automat. Erst wenn jemand eine Münze einwarf, machte er den Mund auf.
Leo war schlechter Laune. Seit dem frühen Morgen holte er Wäsche ab und trug Wäsche aus, Unmengen von schmutziger und sauberer Bettwäsche. So wie er das Fahren liebte, hasste er jede Fahrtunterbrechung. Es war immer dasselbe. Wäschehaufen, nichts da, kein Körper, gegen den man in seiner Wut treten konnte. Man verhedderte sich bloß mit dem Fuß in Laken. Entweder stand er vor grauweißen Wäschebergen, getränkt mit Sekreten und Ausscheidungen, und unterzeichnete das rote Formular, oder er brachte die gereinigte, nach irgendwelchen Blüten duftende, schneeweiße Wäsche zurück, schön gestapelt, und unterzeichnete das grüne Formular. Bei diesem unumgänglichen Austausch, einer Endlosschleife, spürte er, wie zerrissen und mürrisch er war. Aus dieser Sackgasse konnte auch Buddha ihm nicht heraushelfen. Er, Leo Zimny, musste den Rückwärtsgang einlegen und sich selbst hinausmanövrieren und dann mit Vollgas in eine andere Richtung losbrausen. Buddha stellte sich den rechten Weg als eine steinerne Treppe vor, die man Leben nach Leben allmählich hochstieg, um ganz oben, am Ende des letzten Lebens, zu erlöschen und ein Nichts zu werden.
In gewisser Weise war es unlogisch, grübelte Leo, das Erlöschen als Ziel zu betrachten. Nirwana. So erstrebenswert fand er dies auch wieder nicht. Das Nichts war ein bisschen zu wenig. Er gönnte sich eine Pause. Die Wäsche war getauscht, der Kleinbus stand vor der Rampe. Im Park des Pflegeheims, auf der Sitzbank unter einem ausladenden Ahornbaum, aß er Gummibärchen.
Früh am Nachmittag.
Er bemerkte zuerst die Pflegerin, eine blonde Frau, die ihm gefiel. Er hatte sie schon mehrmals beobachtet, wenn er hier ein wenig verweilte. Heute schob sie einen Rollstuhl. Der schmale, gegen eine Stütze gelehnte Kopf der Patientin und die Brüste der Pflegerin, auf denen Leos Blick verharrte, befanden sich auf gleicher Höhe. Vor diesem Hintergrund schaute Leo auf ein blasses Gesicht, auf das maskenhafte Antlitz einer Frau ohne Alter, die weder wach war noch schlief.
Sommersprossen, ein fein gesprenkeltes Band quer über die Nase, kurzes, rötliches Haar, sehr dünn…die Augen weit offen… grau… nichts Verträumtes…
Die Frau im Rollstuhl war Alice.
Das, was von Alice Braun übrig geblieben war.
Leo sprach sie mit dem Namen an. Keine Reaktion. Leos Herz stotterte, zwischen zwei Schlägen stand es für eine Ewigkeit still, es erlaubte sich einen gefährlichen Aussetzer, eine Spanne, in der alles kippte, in der sich etwas verschob, in der Leo neu justiert wurde.
DER BESTE BETREUER, den man sich denken kann, schwärmte die Pflegerin und fragte Tom, ob er einen Kaffee möchte. Sie ging zum Automaten und brachte zwei große Becher Kaffee mit Milch und Zucker. Sie überprüfte die Zeit auf ihrem Handy, um 15Uhr sollte sie abgelöst werden.
Leo Zimny hätte alles sofort begriffen. Man musste ihm eine Sache nur einmal zeigen, gab die Pflegerin Tom bereitwillig Auskunft: Wie Patienten gebettet wurden und wie gelagert, wie man sie anzufassen hatte. Die Pflegerin trank den Kaffee mit kleinen Schlucken, als sei er zu heiß für ihre empfindliche Zunge. Leo hatte gute Kenntnisse in Anatomie. Und keine Scheu, alles zu tun, was notwendig war, er zeigte auch niemals Ekel. Von allen Helfern war Leo der kräftigste, der kundigste, er legte seine Patientin ins Bett, er nahm sie hoch, schonend, gutmütig, immerzu sanft und ruhig, nie verlor dieser riesige Mann die Geduld, nie wurde er grob, kein Fluch, kein böses Wort, Leo Zimny war ein Engel.
War er ausgebildet als Betreuer, fragte
Weitere Kostenlose Bücher