Vier Tage im August
Tom.
Nein. Aber Leo kam fast jeden Tag ins Heim, er kümmerte sich ausschließlich um Alice Braun.
Er sprach mit ihr, er schob ihren Rollstuhl durch den Park. Nach einer Zeit der Eingewöhnung unternahm er Ausflüge mit seiner Alice, eine Rundfahrt mit dem Schiff, einen Besuch im Zoo. Sie hielten sich am liebsten vor der Anlage der Nashörner auf und in deren Haus, wo es warm war und nach Heu und Dung roch. Vögel hüpften über den Rücken des mit gesenktem Kopf reglos dastehenden Bullen und pickten Parasiten aus den Schrunden seiner Haut. Leo redete auf Alice ein. Er sprach von dem Bullen wie von einem engen Freund, von seinem besseren Ich. Der Bulle sei älter als dreißig Jahre, über dreitausend Kilo schwer und renne, einmal in die Gänge gekommen, schneller als der schnellste Mensch. Nashörner seien scheu, Einzelgänger. Leo ging ins Detail, Alice sollte alles erfahren, was er über diesen großartigen Bullen wusste und alles über das Nashorn im Allgemeinen.
Sie hörte ihm zu?
Er war davon überzeugt.
Wenn er sie berührte, schien sie das wahrzunehmen, etwas in ihr, ein im Körper verankertes, vom Bewusstsein unabhängiges Empfinden registrierte, dass sie geliebt wurde, zumindest liebevoll behandelt. Ihre Haut erkannte seine Hände. Der Tonus der Muskeln wurde weicher, Alice war in seiner Anwesenheit, wenn er nur still an ihrem Bett saß, weniger verspannt, kaum spastisch. Der Stationsarzt umschrieb Alice Brauns Status als vegetatives Wohlbefinden. Aber Alice tat auch Leo gut. Am Anfang war er nicht so beliebt gewesen. Niemand vermochte ihn einzuordnen. Er wirkte kalt. Mürrisch. Seine ganze Zuwendung galt Alice, alle anderen behandelte er wie Luft. Doch mit der Zeit taute er auf, wurde er ein richtig netter Kerl.
Er nannte Alice seine Prinzessin, verriet die Pflegerin Tom und errötete. Er hat ihr die Zehennägel lackiert. Er träufelte lindernde Tropfen in ihre trockenen Augen.
Er war nicht nur mitempfindend und eine treue Seele, sondern auch ein ungewöhnlich kräftiger Mann. Leo hatte ein richtig breites Kreuz. Wo andere Betreuer mit dem Rollstuhl ihres Schützlings stecken blieben, verschaffte er sich Durchgang. Ohne lange zu fragen, räumte er für Alice Hindernisse aus dem Weg. Auch Treppen konnten ihn nicht aufhalten, er trug seine Prinzessin samt Rollstuhl hoch. Beim Einsteigen in die Straßenbahn schlug er einem Mann, der sich eine unverschämte Bemerkung erlaubte, die flache Hand so hart auf die Brust, dass diesem der Atem wegblieb.
In Leos Abwesenheit geschah das Gegenteil. Sobald er seine Besuche aus Gründen, die er uns nie offenbarte, eine Zeit lang einstellte, ging es Alice merklich schlechter. Und manchmal blieb Leo richtig lange fort. Mehrere Monate, er klärte die Pflegerin, niemand wusste, wo er sich aufhielt. Sie zuckte leicht mit den Schultern. Alice wurde dann unruhig, ihre Äußerungen, die gepressten Zischlaute, die sie unvermittelt ausstieß, bekamen etwas Scharfes, Krächzendes.
Im Gespräch mit den Ärzten äußerte Leo seine Zweifel und rückte nicht davon ab, obwohl sie seine Darlegung belächelten. Die Weißkittel waren ignorante Plapperer. Sie sahen Alice falsch. Beteten ihre Litanei herunter. Ganz abgesehen davon kümmerte sich nach all den Jahren ohne messbare Fortschritte kein Mediziner mehr mit echtem Interesse um die Patientin Alice Braun. Die Ärzte hatten diese Frau längst abgeschrieben. Ein hoffnungsloser Fall. Alice Braun vegetierte in tiefster Vergessenheit in ihrem stillen weißen Zimmer dahin.
Die Hülle einer Frau.
Der Schatten.
Ihr einziger Besucher war Leo Zimny.
Er schob Alice im Rollstuhl durch Parks und Grünanlagen, sie sollte Blumen riechen und Vögel hören, er nahm sie ins Krafttraining mit, in die Kneipe und zur Dönerbude. Es gab Wellen, Wellen von Beistand, die er übermittelte. Sie sollte den Regen spüren und den Wind. Sie sollte die Autos hören und die eiligen Schritte der Passanten. Und einige Male setzte er Alice als Beifahrerin in seinen Kleinbus, den dunkelblauen Ford Transit, Leo Zimny trug ja weiterhin Wäsche aus. Er zurrte Alice mit den Gurten sorgfältig fest, sie saß neben ihm, steif wie eine Puppe, weit offene Augen. Die Abteilungsleiterin unterband diese Unternehmung, erlaubte Leo jedoch, Alice am Wochenende in seine Wohnung mitzunehmen, Leo Zimny verbrachte seine Freizeit am liebsten mit ihr. Seit er im Park des Pflegeheims nach vielen Jahren, in denen er vergeblich bestrebt war, Alice Braun zu vergessen, ihr
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