Vier Tage im August
wiederbegegnet war und ihre Geschichte erfahren hatte, glaubte Leo, ein Zeichen, einen Wink des Schicksals erhalten zu haben. Höheren Ortes war darüber verfügt worden, es sei fortan seine Aufgabe, für Alice Braun da zu sein. Sie waren füreinander bestimmt. Alice war, unabhängig von ihrer geistigen und körperlichen Verfassung, seine Frau. Und er war ihr Mann.
In der Stadt machte er Alice auf die Schaufenster aufmerksam, auf die Puppen, die Kleider trugen, die er am liebsten an ihr gesehen hätte. In einer Parfümerie kaufte er Seife, Shampoo und einen Lippenstift für Alice. Zu Hause schminkte er ihren Mund rot und platzierte sie auf dem Sofa vor den Fernseher. Dann setzte er sich neben sie und bettete ihren Kopf sacht in seinen Schoß. Alice war seine große Liebe. Ihre grauen Augen standen weit offen, sie blinzelten kein einziges Mal.
Ihr Blick ging nicht in die Weite, nicht ins Nichts, und er drang schon gar nicht durch alle Dinge hindurch. Alice Braun hatte keinen Blick mehr. Ihre Augen nahmen nie persönlichen Kontakt auf. Keiner spürte ihren Blick auf sich ruhen. Niemand senkte den Blick, wähnte sich gar beobachtet, schämte oder freute sich über eine wie auch immer geartete Aufmerksamkeit.
Alice Braun schaut keinen Menschen an und beobachtet nichts.
Das war das Urteil der Ärzte.
Ärzte irren sich oft. Leo wusste das und verachtete sie. Die Ärzte nahmen sich zu wenig Zeit und hielten sich nie lange genug im Zimmer von Alice auf, um das Wesentliche zu erfassen.
Ihn schaute Alice an. Außerdem waren die starr geweiteten Pupillen ein Spiegel. Leo konnte manchmal den Glanz seiner Augen darin erkennen und eine grundsätzliche Übereinstimmung, denn auch er war in seinem Leben nicht ganz anwesend.
Leo erzählte Alice von Thailand, von Kampfschulen und Buddha, sprach mit ihr über alles, was ihn beschäftigte, und Alice antwortete, es gab keine Missverständnisse, die Frequenz stimmte, es gab nichts Störendes, Leo hörte ihre Stimme, verstand, was sie ihm mitteilte. Alice sagte, ich habe Durst, und er gab ihr zu trinken, sie sagte, du solltest wieder einmal nach Phuket reisen, und er buchte einen Flug.
Kommst du mit, fragte er.
Ja, sagte sie.
Alice benötigte damals noch kein Atemgerät, ihre Lunge funktionierte, sie nahm Nahrung auf, schluckte, sie hatte Verdauung, einen stabilen Stoffwechsel und vielleicht auch ein Bewusstsein und bestimmt noch eine Wahrnehmung.
Ein Atemgerät brauchte sie erst in den letzten Wochen, als ihr Zustand sich rapide verschlechterte und das Ende ihrer Qualen absehbar wurde, sagte die Pflegerin. Ohne technische Unterstützung, ohne Maschine hätte sie keine fünfzehn Minuten mehr überlebt. Zunächst unbemerkt hatte sich ein Krebs in ihrer Lunge entwickelt. Die Ärzte erwogen dann sogar eine Operation, eine Chemotherapie. Aber Alice hatte schon Metastasen, überall, ihre Organe versagten.
Tom machte Notizen.
Leos Stimme beschwichtigte und besänftigte Alice, denn bisweilen bäumte sie sich mit einer merkwürdigen Kraft auf. Man war dann versucht zu denken, sie leiste Widerstand, kämpfe, um den inneren Kerker zu sprengen, sie lehne sich gegen die Ungerechtigkeit ihres Schicksals auf.
Es war nur Leos Wunsch.
Die Herren Doktoren wussten nicht, was der Stimulus war für diesen sinnlosen Energieaufwand.
Leo hievte Alice am Abend in die Badewanne und wusch sie mit handwarmem Wasser, er achtete darauf, dass die Seife nicht in ihre Augen geriet, er rieb sie mit dem flauschigen Badetuch behutsam trocken, bestrich wundgelegene Hautstellen mit lindernder Salbe und streifte ihr den Pyjama über. Er tupfte ihr Parfum hinter die Ohren. Er legte sie ins Bett und deckte sie sorgfältig zu. Wegen ihrer Magerkeit kühlte sie rasch aus. Seine Zuwendungen waren richtig gut für Alice. Wenn er sie liebevoll massierte, schien sie es zu genießen, wenn er sie fütterte, schluckte sie besser; wenn er ihr die Kleider wechselte, war sie biegsam, als versuchte sie mitzuhelfen. Er hielt ihre kühle Hand und gab ihr von seiner Wärme ab. Leo Zimny tat alles mit Umsicht und großem Zartgefühl.
Ein Engel, wie gesagt, schloss die junge Pflegefachfrau, mit der sich Tom unterhielt.
FRIEDHÖFE ÜBTEN KEINE ANZIEHUNG auf Tom aus, er mied sie eher, war hilflos schwach bei den Toten. Umgeben von Grabstätten, in dem Wissen, dass auch er einmal dort liegen würde, gelang es Tom dann nie, sich zu sammeln.
Zum letzten Mal hatte er sich mit Jara auf dem Friedhof aufgehalten, ein Kollege, mit dem
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