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Vier Tage im August

Vier Tage im August

Titel: Vier Tage im August Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvio Blatter
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gelöscht. Wenn er sich vorstellte, auf irgendeiner Straße durch eine Stadt zu gehen und zugleich von weit oben hinunterzublicken, konnte er sich in dem Meer von Menschen nicht entdecken. Fuhr er mit dem Motorroller durch die namenlosen Straßen, befand er sich ständig in Alarmbereitschaft. Aber diese Lebensweise entsprach ihm jetzt. Als Kämpfer blieb er trotzdem ein Individuum, und jeder Gegner hatte ein Gesicht; er hatte sie alle gespeichert.
    In Thailand schien die Zeit nicht ein ewiger, träge dahinfließender Strom zu sein, sondern ein stetig wachsender Tropfen, der schwer und schwerer wurde, bis die Oberfläche der Spannung nicht mehr standhielt und platzte. Manchmal fuhr er ans Meer, er hatte eine kleine Bucht entdeckt, und legte sich in den Sand. Der Himmel war blau, das wusste er, weil es dahinter eine tiefe, undurchdringliche Dunkelheit gab. Leo döste weg. Das war kein guter Zustand für einen Denker. Er war sich nicht immer sicher, ob er nur kurz in die Sonne geblinzelt hatte oder nach zwei Stunden tiefen Schlafs aufgewacht war. Im Licht der Tropen glitt Leo zuweilen an Orte zurück, die er schon vor langer Zeit hinter sich gelassen hatte. Das war ganz angenehm, so lange ihm dabei nicht das Gelände des Ruderclubs kristallklar vor Augen kam, das Bootshaus, der Vierer.

JAHRE SPÄTER KEHRTE LEO ZIMNY ZURÜCK . Ein langer Flug, die Maschine wollte von Südostasien nicht loskommen, und Westeuropa schien ein schwacher Magnet zu sein. Leo schaute aus der Fensterluke. Da draußen war nirgends ein Ort festzumachen. Der Himmel bezog sich auf dieser Höhe auf keinen Kontinent mehr. Ins unermessliche Blau könnte man sich auch von der Erde wegführende Straßen denken. Der Sitz war unbequem, für einen Mann von Leos Statur gab es selten einen passenden Sessel.
    Am Flughafen holte ihn niemand ab.
    Leo hatte schon oft einen Ort verlassen, meist ohne Wehmut, manchmal sogar ohne Begründung, warum er gerade jetzt weiterziehe, weiterziehen müsse. Darum spielte er nicht einmal mit dem Gedanken, jemand könnte ihn ersehnen, warte mit Herzklopfen, um ihn in die Arme zu schließen und endlich wieder zu Hause zu rufen. Ein Mensch, der voller Freude auf ihn zugelaufen käme, würde ihn in Verlegenheit bringen. Leo Zimny war mit leeren Händen zurückgekehrt, ohne Geschenke, weder für eine Frau noch für Kinder. Und hätte doch jemand die Absicht gehabt, ihn in Empfang nehmen, hätte dies an seinem veränderten Aussehen scheitern müssen. Leo Zimny war auf den ersten Blick ein Hüne. Und sonst? Blond, kurz geschnittenes Haar. Sein Gesicht etwas aufgedunsen, die Lippen schmal, das Augenweiß gelblich. Er trug einen hellen Anzug, ein rotes T-Shirt und Turnschuhe. Wollte ihm jemand, der ihn verwechselte, begrüßen, dürfte er sich nicht wundern, wenn seine ausgestreckte Hand gar nicht beachtet oder von Leo zerquetscht würde.
    Wo immer er sich aufgehalten hatte, war seine Anlaufstelle eine Kampfschule gewesen; es gab sie in jeder Stadt, und ein beherzter Mann wie Leo Zimny wurde gern aufgenommen. Auch wenn er alles andere als vertrauensselig war. Die asiatischen Verbeugungsrituale allein genügten nicht, es gelang nur wenigen Menschen, sein Misstrauen zu überwinden, seine Distanz als Schutz vor weiteren Verletzungen. Er knüpfte Kontakte, das schon. Nirgendwo fiel es ihm schwer, eine Bleibe und einen Job zu finden, ein Zimmer für einige Tage, eine Wohnung für ein paar Monate, eine Hütte mit Wellblechdach. Kleine Verhältnisse. So hatte er mehrere Jahre verbracht, am längsten in Bangkok und Phuket gelebt und sein Geld als Fahrer verdient. Er wurde nie heimisch. Von Frauen hielt er sichfern. Den Lieferbus seiner jeweiligen Firma lenkte er so stoisch und zielstrebig durch den Verkehr, als habe er, nebst einer eingebauten Uhr, die Details eines Stadtplans im Kopf, von dem nur er wusste und der nach seinen Angaben gezeichnet und in Druck gegeben werden könnte.
    Als Kämpfer, im Ring, war Leo Zimny manchmal zu wenig kaltblütig. Er setzte nicht mit aller Härte nach, wenn der Gegner wankte. Es gab den blinden Fleck, Momente, in denen er abschweifte und Treffer kassierte. Wenn er danach benommen auf dem Boden kniete, schrien die Zuschauer, der Ringrichter zählte und Leo rappelte sich hoch, mit stieren Augen, und stellte sich wieder zum Kampf.
    In Phuket litt Leo Zimny am wenigsten unter dem Gefühl, nicht mehr zu den Sesshaften zu gehören.

NACH SEINER RÜCKKEHR AUS THAILAND hatte Leo in Zürich bald eine Anstellung

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