Vier Zeiten - Erinnerungen
Freisler mit unerschrockener Ruhe und beantwortete die Forderung nach Reue, indem er der Hoffnung Ausdruck verlieh, ein
anderer werde mehr Glück haben. Am 10. August 1944 wurde dieser kühne und einzigartige Mann in Plötzensee hingerichtet.
Nach dem 20. Juli folgten auch in unserem Regiment und bei der Division Vernehmungen und Untersuchungen. Fernschreiben kamen ans Tageslicht, mit denen Bussche Monate früher für Berlin angefordert wurde, und die als Unterschrift den Namen Stauffenberg trugen. Durch unbegreifliche Wunder, Beseitigung weiterer Papiere und eisiges Schweigen von Kameraden in Verhören kamen Bussche und andere unentdeckt durch. Aber nicht alle. Am Ende hatte keine andere Einheit der Wehrmacht so viele Beteiligte am Widerstand als Opfer zu beklagen wie unser Regiment.
Die neun Monate nach dem 20. Juli bis zum Kriegsende waren nur Agonie. Wie erbittert war oft unter oppositionell Gesinnten darüber gestritten worden, ob es einen richtigen Zeitpunkt für ein Attentat auf Hitler gebe. Manche meinten, es dürfe nicht zu früh kommen, um keine zweite Dolchstoßlegende wie am Ende des Ersten Krieges entstehen zu lassen. Erst wenn die Alliierten tief genug in Deutschland eingedrungen seien, werde die Bevölkerung begreifen, worum es gehe. Ich erinnere mich an eine solche heiße, die ganze Nacht dauernde Diskussion wenige Wochen vor dem 20. Juli 1944 im Hause meines Bruders mit ihm und unserem gemeinsamen nahen Freunde Hellmut Becker. Es ist schwer erträglich, im nachhinein an diese Debatten zu denken wie auch an die vielen Hindernisse und Versäumnisse im Widerstand. Warum konnten damals kluge und tapfere Leute nicht erkennen, daß es längst nicht mehr um Legenden oder um das spätere Verständnis historischer Rollen und Taten ging, sondern um die Menschenleben eines jeden Tages? Die Zahl der Opfer in den Vernichtungslagern und bei der kämpfenden Truppe, bei Luftangriffen und auf der Flucht war in den Monaten nach dem gescheiterten Attentat größer als in der ganzen Kriegszeit davor zusammengenommen. Wir haben es nicht geschafft.
Dritter Abschnitt
Teilung Europas und Deutschlands in der bipolaren Welt
Deutschland kapituliert; bei der Familie in Lindau
Am 8. Mai 1945 hatte Deutschland bedingungslos kapituliert und war von den Siegermächten besetzt worden. Alle wurden von der nationalsozialistischen Zwangsherrschaft befreit. Verfolgte des Regimes wurden endlich von drohender Lebensgefahr erlöst. Für viele andere aber waren Not und Todesgefahr nicht vorüber. Für zahllose Menschen begann das Leid erst mit dem Ende des Krieges. Weithin war die Heimat zerstört und verloren. Ungewiß war das Schicksal der Angehörigen. Jeder, der überlebt hatte, suchte den Weg zu einem neuen Anfang.
Das Berliner Haus, in dem die Familie zuletzt gewohnt hatte, war den Bomben zum Opfer gefallen und abgebrannt. Oberhalb von Lindau am Bodensee gab es eine kleine Hühnerfarm, die von der über achtzigjährigen Mutter meines Vaters bewirtschaftet wurde. Das alte Bauernhaus machte sie nun zu einem neuen Familienrefugium für Kinder und Enkel. Dort fand auch ich die erste Unterkunft.
Auf dieser »Halde«, wie wir sie nannten, traf ich einen reinen Frauenhaushalt an, Folge des Krieges. Meine Schwester hatte mit ihren beiden kleinen Töchtern die angestammte ostpreußische Heimat ihrer schwiegerelterlichen Familie verlassen müssen und fand hier Schutz. Von ihrem Mann, seit 1944 an der Front vermißt, kam nie wieder ein Lebenszeichen. Aus Schlesiens Hauptstadt Breslau war meine Tante Olympia Weizsäcker, Frau von Viktor, dem Bruder meines Vaters, mit ihren beiden Töchtern auf die Halde gekommen; ihre beiden Söhne waren im
Krieg gefallen. Ihr Mann war interniert. Dasselbe Schicksal hatte auch meinen Bruder Carl Friedrich getroffen. Zusammen mit Otto Hahn, Werner Heisenberg, Max von Laue und einigen anderen deutschen Physikern war er auf Betreiben der USA festgesetzt und nach England verbracht worden. Diese deutschen Wissenschaftler gerieten unter den irrtümlichen Verdacht der Amerikaner, an der Herstellung einer deutschen Atombombe gearbeitet zu haben. Damals stand die amerikanische Bombe unmittelbar vor ihrer Vollendung und dem Abwurf auf Hiroshima und Nagasaki.
Im Sommer 1945 kam noch ein Flüchtlingspaar auf die Halde; es waren die Schwiegereltern meiner Schwester. Er, der alte Siegfried Eulenburg, hatte im ersten Weltkrieg das Erste Garderegiment zu Fuß kommandiert, dessen Tradition später meinem Potsdamer
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