Vier Zeiten - Erinnerungen
unheimlich, und er half anderen wenig, zumal wenn er auch noch ein ehrgeiziger Vorgesetzter war, wenn er gar »Halsschmerzen« hatte, wie wir das erkennbare Streben nach einem Orden um den Hals nannten. So einer stand gewiß - siehe Schiller - auf sich selber ganz allein, anders als jener, der tapfer genug mit seiner Angst rang, um sie vor den anderen zu verbergen, sie damit nicht anzustecken. Unbegrenztes Vertrauen zueinander konnte wachsen. Freundschaften entstanden, wie sie das Leben sonst kaum bietet; sie sind nie mehr abgerissen. In sehr jungen Jahren wurde manchem von uns eine menschlich größere Verantwortung zugewiesen als je später, in welchen Aufgaben und Ämtern auch immer.
Dennoch war uns völlig fremd, was der Philosoph Max Scheler 1915 in seinem »Genius des Krieges« überschriebenen großen Essay gesagt hatte; dort wird der Krieg als die »Stunde der Wahrheit« beschrieben, als das »Geheimnis der Selbstbehauptung der Kulturen«, der das Echte vom Unechten trennt und die wahre Substanz offenbart. Von einem solchen Genius wollte diesmal keiner von uns etwas wissen. Mit meinen eigenen Erlebnissen aus dem Krieg der Hitlerzeit und nicht erst im Licht der heutigen Waffensysteme sehe ich im Krieg, wie die meisten von uns, nichts als den grausamen Zerstörer des Lebens.
Mit Grausamkeiten anderer Art als die, die ich bei meinem Regiment in der vorderen Linie erlebte, befaßt sich eine Wanderausstellung »Vernichtungskrieg«, die das Hamburger Institut für Sozialforschung 1995 auf die Reise geschickt hat. Sie soll das Tabu brechen, daß die Wehrmacht »sauber« geblieben sei. Diese habe sich vielmehr in wachsendem Maße aktiv an Kriegsverbrechen beteiligt. Die Beispiele stammen vor allem aus Weißrußland, vom Marsch auf Stalingrad und aus Serbien. Es ist schwer, vor den Texten und Bildern der Ausstellung standzuhalten. In
einem Befehl an die Truppe über ihr Verhalten »im Ostraum« hatte der Feldmarschall von Reichenau verordnet, das wesentliche Ziel des Feldzuges richte sich gegen das »jüdisch-bolschewistische System«; es ginge um die Ausrottung des asiatischen Einflusses im europäischen Kulturkreis. Es gab Führungsstäbe und Einheiten der Wehrmacht, die sich an barbarischen Gewalttaten gegen wehrlose Juden, Zivilbevölkerung und Kriegsgefangene beteiligten. Ganz gewiß nicht erst durch diese Ausstellung wissen wir, daß wir von keiner insgesamt integren Wehrmacht sprechen können, die sich inmitten böser Mächte allein als heile Zufluchtsburg des Anstandes bewahrt hätte.
Schwere und notwendige Einsichten sind es, die nach meiner Erfahrung zwei unterschiedliche Anmerkungen nach sich ziehen. Zum einen: Nicht weniger notwendig ist es, zu differenzieren. Verbrechen der Wehrmacht hat es gegeben. Etwas ganz anderes und Falsches wäre es, von der verbrecherischen Wehrmacht zu sprechen. Es wäre unsinnig, den Unterschied der Verhältnisse im Frankreichfeldzug, im Afrikakorps, im Osten an der Front und im rückwärtigen Heeresgebiet des Ostens zu leugnen. So etwas liefe darauf hinaus, kollektive Urteile über Schuld oder Unschuld anzustreben. Wer das versucht, verirrt sich im ethischen Niemandsland; er erstickt schon im Keim den Prozeß der Erkenntnis, um den es nicht nur den Nachfahren, sondern auch den Kriegsteilnehmern selbst gerade aus ethischen Gründen gehen muß. Aber dieser Prozeß - und das ist die andere Anmerkung -erfüllt sich eben auch nicht in der bloßen Abwehr pauschaler Bewertungen, sondern nur in der Bereitschaft des einzelnen, der abgründigen Lage ins Auge zu sehen, die der Krieg für ihn in seinem Verband und seiner konkreten Situation mit sich brachte.
Daher gehe ich zunächst noch einmal von den Erfahrungen aus, die ich in meinem Truppenteil hatte. Eine wahrheitsgemäße Kenntnis besaßen wir im Grunde nur von den Verlusten in den eigenen Reihen, dagegen praktisch nie einen Überblick über den
militärischen Verlauf der Feldzüge und kaum je verbürgte Nachrichten über Gewalttaten gegen wehrlose Menschen im rückwärtigen Heeresgebiet. Es gab dumpfe Gerüchte, denen wir zu lange nicht konsequent genug nachgingen, das ist wahr. In der vorderen Linie aber haben wir Kriegsverbrechen unter wehrhaften Soldaten kaum erlebt. In ganz seltenen einzelnen Fällen waren verwundete deutsche Soldaten, die bei bewegter Frontlinie vorübergehend in Feindeshand geraten waren, verstümmelt wieder aufgefunden worden. Furcht und Schrecken herrschte bei uns im Gedanken an eine sowjetische
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