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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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aber nicht leicht, seinen Gedankengängen zu folgen. Wenn ich ihm zuhörte, mußte ich an die von Werner Heisenberg empfohlene Maxime für einen geistreichen und schwierigen Vortrag denken: Ein Drittel solle sich durch leicht verständliche, beinahe triviale Gedankenführung auszeichnen; ein zweites Drittel sollte anspruchsvoll und schwer, aber doch von bleibender, konstruktiver Verständlichkeit geprägt sein; das letzte Drittel hingegen sollte allen Zuhörern bis an ihr Lebensende unbegreiflich bleiben. Mit Physik hatte es Werner Heisenberg, der Freund meines Bruders Carl Friedrich, bei mir nie versucht. Dafür habe ich um so besser bei ihm Tischtennis spielen gelernt und mit größter Freude seinem vorzüglichen Klavierspiel zugehört. Diese Künste gehörten also zu seinem zweiten Drittel.
    Einen starken Eindruck hat der Alttestamentler Gerhard von Rad auf mich gemacht. Ihm verdanke ich das Verständnis von der Kraft der Erinnerung in der menschlichen Existenz, wie sie in einem religiösen Sinn der jüdische Glaube vielleicht am tiefsten erfaßt, für den der Glaube an Gott der Glaube an Gottes Wirken in der Geschichte ist. Das Alte Testament, die Bibel der Juden, ist zugleich ihr Geschichtsbuch. Ihre Erinnerung ist demzufolge ihre Erfahrung von Gottes Wirken in ihrer eigenen Geschichte und damit zugleich ihre Hoffnung auf Erlösung, das heißt auf die Überwindung des Zwiespältigen, auf Wiedervereinigung des Getrennten. Erinnerung heißt in diesem Sinne für sie das Geheimnis der Erlösung. Wer aber vergißt, verliert den Glauben.
    Im stets überfüllten Auditorium maximum gab es Publikumsvorlesungen
aller Art. Der Rektor der Universität, Ludwig Raiser, brachte uns die Grundzüge der gesellschaftsrechtlichen Mitbestimmung nahe; mit ihr hatte ich bald darauf beruflich viel zu tun. Der berühmte Philosoph Nicolai Hartmann las mit großer Klarheit über Ethik und Ästhetik, aber Heidegger hätte uns wohl mehr fasziniert. Der Slawist Maximilian Braun begründete in mir die seither nie mehr revidierte Überzeugung, daß ich unter allen Beiträgen zur Weltliteratur des 19. Jahrhunderts erst zu allerletzt auf die russischen verzichten könne. Mein Bruder Carl Friedrich hielt eine Vorlesung über die Geschichte der Natur; es war ein gewagter und gewaltiger interdisziplinärer Ausblick auf das Ganze, über den heftig diskutiert wurde.
    All das mag den Anschein erwecken, als hätte damals ein Jurastudent auf die trockene und nüchterne Ausbildung im eigenen Fach weitgehend verzichten können. Ganz so war es natürlich nicht. Man machte seine Übungen, jagte den Scheinen hinterher und ging zum besten Repetitor. Dennoch suchten und fanden wir den Spielraum, um der weiten Welt der Gedanken und Erfahrungen auch ohne direkten Bezug zu einem späteren Beruf zu begegnen.
    Daß ich so wenig von meiner eigenen, der rechtswissenschaftlichen Fakultät berichte, hat seinen Grund in den Anfangsschwierigkeiten, die das Jurastudium oft bietet. Was man da alles in seinem glorreichsten Sektor, dem Bürgerlichen Recht, hörte, war eine Fülle komplizierter Einzelheiten ohne leichtverständlichen Zusammenhang. Daß sie sich in ein systematisches, imponierendes Großbauwerk einfügen, das den Menschen ein humanes Zusammenleben sichern soll, wurde nur äußerst langsam sichtbar. Und auch etwas anderes, wonach es uns verlangte, nämlich eine begründete Zuversicht, daß es im Strafrecht um das erreichbare Höchstmaß von Gerechtigkeit unter Menschen geht, wurde uns bei der Pedanterie der minuziösen einzelnen Straftatbestandsmerkmale kaum unmittelbar zugänglich.
    Viele der Professoren brillierten mit ihrem Scharfsinn, um
den Gedankengebäuden der Kollegen die »richtige Meinung« gegenüberzustellen, also ihre eigene, zumeist ebenso subjektive. Oft war es eine spitzfindige, ziemlich abstoßende Rechthaberei. Gerade in der Rechtswissenschaft hätten sich doch die Selbstkritik im Blick auf die jüngste Vergangenheit und die Suche nach einem orientierenden Neuanfang deutlich und verständlich Gehör verschaffen sollen. Das war es, wonach wir durch den Krieg geprägten Studenten suchten; zu viele ließen uns dabei allein und in der Schwebe.
    Es gab gewichtige Ausnahmen. Zu ihnen zählten der Staatsund Kirchenrechtler Rudolf Smend und der Privatrechtslehrer Franz Wieacker. Dieser machte uns die wechselseitige Bedingtheit des peniblen Details und des ethisch-rechtlichen Ganzen begreifbar. Er ließ uns nicht nur verstehen, wie sehr das Recht von

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