Vier Zeiten - Erinnerungen
genau. Sie traten uns nicht als privilegierte Ordinarien mit Herrschaftswissen und Distanz gegenüber. Vielmehr wußten sie, daß unsere Fragen auch die ihrigen waren, die sie ganz
offen an sich selbst und ihre Fachgebiete stellten. Und so wurde es eine aufregende und bewegende Zeit, in der die Universität dank einiger großer Persönlichkeiten ihre Herausforderung bestand.
Nach dem Kriegsende war es der Universität Göttingen gelungen, als erste in Deutschland den Betrieb für Forschung und Lehre wieder aufzunehmen und alsbald eine führende akademische Stellung in Deutschland zu erwerben, nicht zuletzt aufgrund der Zuwanderung aus der nahen Ostzone.
Traditionell hatte Göttingen seinen Rang der Mathematik und den Naturwissenschaften zu verdanken. Die bedeutendsten deutschen Mathematiker der letzten 150 Jahre, Carl Friedrich Gauß und David Hilbert, hatten hier gelehrt. An die große Überlieferung der Göttinger Physiker, unter ihnen James Franck und Max Born, knüpfte nun die Max-Planck-Gesellschaft an. Diese bei weitem größte und wichtigste deutsche Forschungsgesellschaft verlegte jetzt ihren Sitz nach Göttingen. Im Jahre 1946 habe ich dort noch einen der letzten Vorträge des greisen Max Planck gehört. Mit den Nobelpreisträgern Otto Hahn, Werner Heisenberg, Max von Laue, Adolf Windaus und mit anderen hervorragenden Forschern und Lehrern, unter ihnen mein Bruder Carl Friedrich, bildete sich rasch ein starker naturwissenschaftlicher Anziehungspunkt für das In- und Ausland.
Insgesamt wurden es Jahre einer wachsenden Symbiose zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Physiker philosophierten, Theologen interessierten sich für die Quantentheorie, in der Medizin wurde über Psychosomatik debattiert. Wer als Spezialist etwas auf sich hielt, suchte nach seinem persönlichen Beitrag für das Allgemeine. Und für die zahlreichen interessierten Studenten aller Fakultäten wurde es eine Blütezeit des Studium generale, getragen von einigen außergewöhnlichen akademischen Lehrern.
Einer von ihnen war der Anglist Herbert Schöffler. Er
brachte uns nicht nur sein Spezialgebiet nahe, mit dem man immer durchs Leben kommt, nämlich William Shakespeare. Vor allem verhalf er den Studenten dazu, in ihrer tiefen Abneigung gegen die verderblich mißbrauchte Idee einer Volksgemeinschaft in der Nazizeit nun nicht in das Gegenteil einer völligen Vereinzelung zu verfallen. Gewiß bedurfte es keiner großen Anstrengung, uns als Kriegsgeneration gegen übersteigerte Ehrbegriffe und das Satisfaktionsprinzip des alten Waffenstudententums einzunehmen. Von Verbindungen wollte kaum einer von uns etwas wissen. Schöfflers Ziel aber war es, den Zugang zu einem Gemeinsinn ohne seine überlieferten Fragwürdigkeiten freizulegen. Das war damals eine Leistung, an die ich später oft denken mußte, je mehr sie sich im Laufe der Jahrzehnte verlor.
Der allzu früh verstorbene Schöffler hat uns auch ein unscheinbares, besonders köstliches Büchlein hinterlassen, die »Kleine Geographie des deutschen Witzes«. In der Form einer vergleichenden Typenlehre des Witzes schuf er ein überzeugendes und hilfreiches Mittel der Völkerpsychologie. Er entwickelte damit sein Verständnis der Kulturen als die Kunst, Zusammenleben zu lernen.
Eine der großen und glanzvollen Göttinger Erscheinungen war der Historiker Hermann Heimpel. Gemäß seiner ständigen Suche nach einem »feinen oder doch wenigstens nervösen Gewissen« setzte er sich mit der Geschichte des späten Mittelalters ebenso sensibel auseinander wie mit dem Zwiespalt seiner eigenen Generation in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts. Seine Vorlesungen brachten mir jenen Stoff eindringlich nahe, den mein gefallener Bruder Heinrich sich in seinem Herzen erwählt hatte. Heimpels Kollegs waren voll tiefen Ernstes und zugleich quasi künstlerische Feste der Kommunikation. Bei ihm konnte man lernen, was ihn selber bewegte: Geschichte zu lieben, ohne zu verkennen, wie schwer es ist, sie zu verantworten.
Auch in der evangelisch-theologischen Fakultät widmeten sich akademische Lehrer mit Leidenschaft der Aufgabe, ihr Fach
und die Zeit aufeinander zu beziehen. Hans-Joachim Iwand berichtete vom Kirchenkampf gegen die »Deutschen Christen« mit ihren braunen Hintergründen, an dem er aktiv teilgenommen hatte. Friedrich Gogarten behandelte als Thema die Kirche; er wurde neben und abweichend von Karl Barth für die Begründung der dialektischen Theologie von ausschlaggebender Bedeutung. Es war
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