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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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Gefangenschaft.
    Einmal kam ein Befehl von oben, wir sollten keine Gefangenen machen. Ich erinnere mich lebhaft an unsere Empörung über diesen Quasi-Mordbefehl, den wir vom Regimentsstab aus -ich war damals Regimentsadjutant - nicht weitergaben und der, soweit mein Überblick reichte, bei uns auch nirgends angewendet wurde. Ferner gab es auf deutscher Seite den berüchtigten sogenannten Kommissarbefehl; danach sollten vor allem die Politkommissare sowjetischer Einheiten bei Gefangennahme erschossen werden. Unter uns wurde diese Anordnung als Ungeheuerlichkeit und als Verbrechen gegen das Kriegsrecht empfunden. Auch hier weiß ich von keinem einzigen Fall seiner Anwendung im Bereich unseres Regiments.
    Auf beiden Seiten der Kampffront standen sich Menschen gegenüber, deren Sorgen um die eigene Haut kreisten und untereinander daher oft denkbar ähnlich sein mußten. Man konnte Beispiele dafür erleben. Ich besinne mich eines lautlosen Nachtmarsches in langer Reihe, bei dem uns auf einmal eine andere, ebenfalls ganz stille Reihe entgegenkam. Man sah sich kaum und merkte doch plötzlich, daß es Russen waren. Nun galt es, auf beiden Seiten die Nerven zu behalten, und so tasteten wir uns schweigend und unversehrt aneinander vorbei. Man hätte sich umbringen sollen und sich doch eher umarmen mögen.
    Die innere Anspannung wuchs, je länger der Krieg dauerte. Je größer bei uns die Verluste waren, desto schriller tönte die Propaganda
von hinten. Man hatte uns im Mittelabschnitt der Ostfront so lange in Richtung Moskau vorwärtskommandiert, bis wir im tiefen Winter nahe der Hauptstadt bei klirrender Kälte ohne Winterausrüstung erstarrten und steckenblieben. Kurz darauf leitete der sogenannte Reichspressechef Dietrich eine Radiorede mit den mir unvergeßlichen Worten ein: »Als uns im Dezember in Rußland der Winter überraschte...« Zum ersten Mal ging damals eine Welle der Erbitterung auch durch die Reihen der regimegläubigen Soldaten des Regiments. Was war das für eine Führung zu Hause, die sich zunächst über die Kräfteverhältnisse und den Zeitbedarf ihres Feldzugsplanes völlig getäuscht und dann Zentralrußland klimatisch offenbar auch noch mit der Riviera verwechselt hatte?
    In der langen Zeit der Rückzüge kamen von den vorgesetzten Stäben immer häufiger Befehle zum Durchhalten in Verteidigungslinien, die für den normalen Verstand als unhaltbar zu erkennen waren. Wie sollte man solche Befehle entgegen eigener Einsicht anderen weitergeben, für die man verantwortlich war? Genügte es, daß man sich selbst als Vorgesetztem mehr abverlangte als den Untergebenen? Gab es eine Antwort, die vor dem eigenen Gewissen standhielt?
    Ob wir solche Befehle richtig beurteilen konnten, ob wir viel oder wenig von Verbrechen wußten -eines wurde immer klarer: Indem wir die uns zugewiesene Pflicht erfüllten, wurden wir mit unserer Haltung zum Bösen hin instrumentalisiert. In dieser Falle waren wir; das war das Entscheidende, und früher oder später wußten wir es. Wo waren die ethischen Maßstäbe mit der nötigen Reichweite für diese extremen Lagen? Wer von den Nachfahren ist sich heute dessen sicher, daß er damals die Antworten gewußt hätte? Wir versuchten als Soldaten, uns in der konkreten Situation eines jeden Tages, so gut wir es vermochten, an den persönlichen Maßstäben von Werten und von Anstand zu orientieren, mit denen wir aufgewachsen waren. Zugleich lag hier die Erfahrung von der Abgründigkeit aller endlichen Existenz, vor der das ethische Urteil versagt.

    Vormarsch unserer Maschinengewehrkompanie im Herbst 1941 bei Smolensk in der Sowjetunion; vorne im Bild ein alter Freund, Hans-Lothar von Salmuth.
    Aber dabei blieben wir nicht stehen. Als Soldaten waren wir zum Gehorsam verpflichtet. Darauf hatten wir den Eid schon als Rekruten geleistet, nicht in abstrakter ethischer Form, sondern persönlich auf den »Führer«. Anders und länger als die sonstigen nazistischen Größen und Instanzen schützte dies Hitler in der Wehrmacht vor dem Aufbegehren. Dennoch wurde bei uns im engen Kreis der Vertrauten genau darüber immer offener diskutiert. Was konnte für uns der Eid noch bedeuten, nach alter rechtlicher und religiöser Überlieferung ein Vertrag von Freien, der zur gegenseitigen Treue verpflichtete, wenn es an der Treue von oben fehlte?
    Solche Gespräche verliefen unter uns jungen Leuten naturgemäß nicht wie eine ethische Seminarübung. Als wir einmal für kurze Zeit in einer Reservestellung

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