Vier Zeiten - Erinnerungen
der ganzen Kultur seiner Zeit geprägt ist, sondern in einem wie unersetzlich hohen Maß die Kultur ihr Wesen im Recht findet und ausdrückt. Sein großes Thema nannte er die Privatrechtsgeschichte der Neuzeit. In Wahrheit war es die denkbar überzeugendste Kulturgeschichte, die uns dieser zarte und liebenswerte Mann nahebrachte.
Es gab noch einen anderen Hochschullehrer, der sich meiner Fragen nach Unrecht, Gerechtigkeit und zivilisatorischer Entwicklung annahm. Weder war er Jurist, noch lebte er in Göttingen. Es war Viktor von Weizsäcker, der Bruder meines Vaters, Kliniker in Heidelberg und Begründer der psychosomatischen Medizin in Deutschland. Bei ihm ging es gleichsam leiblich denkend zu. Seine weit vorausgedachten neuen Ansätze für die Allgemeine Medizin kann ich nicht sachgemäß schildern. Er hatte zugleich tief in die Religion und Philosophie, in die soziale und rechtlich verfaßte Gesellschaft hinein geforscht. Im engen geistigen Austausch mit dem Heidelberger Rechtsphilosophen und Weimarer Reichsjustizminister Gustav Radbruch hatte er eine ethische Denkweise entwickelt, die mir verständlicher war als die Lektionen der meisten juristischen Fachgelehrten. Diesem
Onkel, der drei seiner vier Kinder verloren hatte und mich mit meinen Fragen wie einen eigenen Sohn aufnahm, verdanke ich viel von der Lebenshilfe, um die es uns damals neben der fachlichen Berufsausbildung ging.
Eine Universität kann nicht alles. Was sie aber für den Horizont einer Generation beizutragen vermag, das hat uns die Göttinger Georgia Augusta in einem Maße erschlossen, für das wir lebenslang mit ihr verbunden bleiben. Man hat uns getreu der Devise Georg Christoph Lichtenbergs, des großes Göttingers aus der Frühzeit der Universität, unterwiesen: »Man muß die Menschen lehren, wie sie denken sollten, und nicht ewig hin, was sie denken sollten.« Für diese Botschaft weckte man unsere Leidenschaft.
Es ist schwer, das Lebensgefühl verschiedener Zeiten und Generationen miteinander zu vergleichen. Auch lehrt die Erfahrung, daß Eltern und Großeltern zumeist nicht sehr weit kommen, wenn sie von den Entbehrungen und Glücksgefühlen ihrer eigenen Ausbildungszeit sprechen, um damit den jungen Menschen der Gegenwart erzieherisch zu helfen. Man kann nur absichtslos berichten.
Gewiß waren die materiellen Lebensbedingungen in diesen ersten Nachkriegsjahren dürftig. Schwer zu ertragen war dies nicht, weil alle gleichermaßen davon betroffen waren. Viele liefen in abgetragenen und umgefärbten Uniformteilen herum. Übergewichtsprobleme hatte niemand. BAföG war eine unbekannte Vokabel. Man hatte und brauchte wenig. Gewitzte Leute lebten, wie immer in solchen Zeiten, vom Schwarzhandel. Andere verdingten sich als abendliche Hilfsarbeiter oder gaben Nachhilfeunterricht. Meine erste Einnahmequelle war der Bayerische Rundfunk. Das dortige Nachtstudio unter seinem hervorragenden Leiter Gerhard Szczesny sendete interessante kulturpolitische Programme und beschäftigte freie Fern-Mitarbeiter, zu denen ich mich mit Berichten über das Leben der Kriegsgeneration an den Universitäten zählen durfte.
Viktor Weizsäcker war ein jüngerer Bruder meines Vaters. Als Professor in Heidelberg und Breslau, wo er Studien über eine anthropologische Medizin und Sozialmedizin betrieben hatte, arbeitete er an einer radikal veränderten Vorstellung von Krankheit. Er wurde einer der Begründer der Psychosomatik.
Politisch waren die Zeiten unruhig. Die Siegermächte bewegten sich auf den Kalten Krieg zu. Die Atmosphäre war oft voller Gerüchte. Manche von uns hatten halbgepackte Rucksäcke unter dem Bett, um wieder auf die Wanderschaft zu gehen, falls sowjetische Truppen nach Westen vorstoßen sollten.
Noch hatten die Besatzungszonen keinen staatlichen Teilungscharakter angenommen. Mit der Zeit aber schlossen uns ihre Grenzen zwischen Ost und West immer hermetischer gegeneinander ab. Das erlebte ich auch einmal am eigenen Leibe. Wir hatten zum Studium fast keine Literatur. Es hieß bei uns, daß man in Halle oder Leipzig bei wissenschaftlichen Antiquariaten für billiges Geld etwas finden könne. Also machte ich mich von Göttingen aus auf einen nächtlichen Schleichweg über die grüne Grenze in die Ostzone. Aber er endete bei schießenden Grenzposten des Ostens und in einem Quasi-Gefängnis, einem Haus im Wald mit zwei Stockwerken, oben die Frauen, unten die Männer, alles erwischte nächtliche Grenzgänger. Wie sollte man da wieder
Weitere Kostenlose Bücher