Vier Zeiten - Erinnerungen
Kommilitonen aus der damaligen Studienzeit bin ich später wieder begegnet: Dem Max-Weber-Forscher Wilhelm Hennis, von dem ich über die Programmatik der politischen
Parteien Entscheidendes gelernt habe; Wolter Russell, dem wunderbaren Arzt und menschlichen Wohltäter in Bonn; Horst Ehmke und Peter von Oertzen in der Politik; Uwe Jessen, dem späteren Gerichtspräsidenten in Berlin; Schroeder-Hohenwarth in der Wirtschaft. Sie alle und viele andere haben die ersten Jahre nach dem Krieg nutzen können, um eine geistige Lebensgrundlage zu gewinnen, die sie mit Göttingen verbindet.
Im politischen und wirtschaftlichen Leben trat die erste große Zäsur mit der Währungsreform im Sommer 1948 auf. Die Zeit des wertbeständigen Geldes begann; freilich hatte man es nicht. Jeder mußte nun irgendwie anfangen, auch im privaten Leben das Wirtschaften zu erlernen. Am Tage der Währungsreform bekam man pro Kopf vierzig DM. Abends hatte ich nichts mehr davon, denn ich hatte mir einen passablen gebrauchten Anzug und ein Secondhand-Fahrrad dafür gekauft.
Für mich aber trat eine Unterbrechung in anderer Form auf, die mit dem weiteren Schicksal meiner Eltern zusammenhing.
Hilfsverteidiger im Nürnberger Prozeß des Vaters
Mein Vater war 1943 als Botschafter an den Vatikan versetzt worden, in dessen Mauern er auch nach dem Kriegsende Gastrecht behielt. Zu einem ersten Nachkriegswiedersehen mit ihm kam es für mich im Winter 1945/46 in Nürnberg. Unter dem zugesicherten Geleit der Alliierten war mein Vater dorthin als Zeuge für den sogenannten Hauptkriegsverbrecherprozeß geladen worden.
Marion Dönhoff, Axel Bussche und ich beschlossen in Göttingen, nach Nürnberg zu fahren, um uns ein eigenes Bild vom gerichtlichen Umgang mit der Nazizeit zu machen. Unterwegs besuchten wir Martin Niemöller, einen der frühesten KZ-Häftlinge aus dem kirchlichen Bereich. Meine Mutter stand ihm
nahe. Mit dem ihm eigenen, unvergleichlichen Feuer suchte er im Gespräch mit uns nicht nach alliierten Kommandos, sondern nach deutschen Impulsen für einen moralischen Neubeginn. Ohne Niemöller fuhren wir weiter nach Nürnberg. Die kostbare mittelalterliche Stadt, die vor allem aus Fachwerkhäusern bestanden hatte, war weithin zerstört.
In vollem Glanz aber prangte der wilhelminische Justizpalast, bereit, die Lebenden zu richten. An seinem Eingang standen zwei amerikanische Panzer mit Besatzung. Marion Dönhoff erinnert sich, daß Axel und ich im Auto laut aufbegehrten: »Die raus, wir rein.« Marion blickte leicht entsetzt angesichts unserer offenbar noch ungestillten soldatischen Triebe. Aber wir wollten natürlich nicht den Krieg fortführen. Uns bedrückte eine Entwicklung, in der die Entnazifizierung eine Sache der Siegermächte zu bleiben drohte. Wir empfanden es als eine Aufgabe der Deutschen, über Verbrechen zu Gericht zu sitzen, deren Opfer Menschen vieler Nationen geworden waren, darunter nicht minder auch die eigenen Landsleute. Es sollte am Ende doch nicht allein bei dem Stichwort »reeducation« als Ausdruck amerikanischer Besatzungspolitik gegenüber den Deutschen bleiben! Der amerikanische Hauptankläger Robert Jackson schrieb nach den Nürnberger Prozessen im Januar 1950, eine Überantwortung der Verfahren an die Deutschen hätte alle frei ausgehen lassen. Wirklich? Hätte eine Aburteilung der wahren Verbrecher nach deutschem Strafrecht die Besinnung in Deutschland nicht weit mehr gefördert und das Rechtsbewußtsein weniger strapaziert - Siegerjustiz? -, auch wenn es schwer gewesen wäre, kurzfristig befähigte deutsche Richter zu finden? Die Entwicklung lief anders.
Doch stand für mich die Reise nach Nürnberg ganz unter dem Eindruck des Wiedersehens mit dem Vater. Die grauenhaften Jahre hatten ihn tief gezeichnet. Alles war für ihn vergeblich gewesen: dem Ausbruch der Gewalt zu wehren, den Flächenbrand über ganz Europa zu dämmen, den Lauf des Krieges wenigstens
zu kürzen, dem Verbrechen in den Arm zu fallen, schließlich die Zerstörung des eigenen Landes und die Belastung seines Namens aufzuhalten.
Seinem Wesen gemäß hatte mein Vater sich stets gescheut, den Empfindungen seiner Seele frei sichtbaren Lauf zu geben, die sein Leben von Grund auf bestimmten. Nun aber überwältigten sie ihn beim Wiedersehen, in Gedanken an das Inferno, an den Sohn und den Schwiegersohn, die nicht wiedergekommen waren, an die allein gebliebene Tochter, an die Trümmer in den Herzen der Menschen.
Doch er wollte mithelfen, wo es noch
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