Vier Zeiten - Erinnerungen
die Ausbildung zu schaffen, Menschen zur Selbständigkeit und zu eigenen Urteilen zu inspirieren und mit ihnen etwas zum Besseren zu wenden.
Hartmut von Hentig, Freund aus Studienzeiten, Altphilologe und ein führender Pädagoge in Deutschland, schuf neue Ausbildungswege, um junge Menschen zu Selbständigkeit und zu eigenen Urteilen zu inspirieren.
Die Brüder Peter und Konrad Kraske waren mir auch schon aus der Militärzeit vertraut. Peter wurde in Göttingen Theologe. Die Taufpredigten, die er bei dreien von unseren vier Kindern gehalten hat, sind ein geistliches Fundament der Familie geworden.
Bei unserem Sohn Fritz, dem jüngsten, übernahm er das Patenamt. Sein jüngerer Bruder Konrad wurde Historiker. Seine Begabung zum Schreiben war außergewöhnlich. Noch heute steht er bei mir in dem Verdacht, seine vorzügliche Doktorarbeit über Martin Luther in einer Nacht geschrieben zu haben. Aus unserem Göttinger Kreis war er der erste, der die Politik zum Gegenstand seiner aktiven Tätigkeit machte. Er wurde Mitglied des Bundestages und versah mit hoher Kompetenz und Integrität eine der heikelsten Aufgaben in unserer Parteiendemokratie, nämlich das Amt des Generalsekretärs in einer großen Volkspartei.
Der jüngste unter uns war Wolfgang von Buch. Er stammt aus der brandenburgischen Uckermark. Als Fünfzehnjähriger war er noch in der letzten Phase zum Kriegsdienst eingezogen worden. Nachdem er in der russischen Gefangenschaft um ein Haar verhungert wäre, kam er an die Universität, noch immer für alles zu jung und zugleich voller Reife des Wesens. Es schien so widersprüchlich und war doch für ihn so charakteristisch, daß er sich mit dem systematischen Erlernen der juristischen Denksysteme lange Zeit schwertat, aber zugleich zur lebenspendenden menschlichen Stütze unseres geistig bedeutendsten Rechtsgelehrten wurde, des schon erwähnten Professors Franz Wieacker. An Wolfgang Buch, der seit langem als Rechtsanwalt tätig ist, lerne ich immer von neuem, daß die Rechtskenntnisse nur das Werkzeug, aber nicht die Sache selbst sind, wenn es um Recht und Gerechtigkeit unter Menschen geht.
Es war ein angefülltes und bisweilen turbulentes Leben im Freundeskreis. Solange die Besatzungsmacht noch einigermaßen streng durchgriff, wurden die Abende vom sogenannten »curfew« beherrscht: nach zweiundzwanzig Uhr abends durfte sich kein Deutscher mehr ohne Sondererlaubnis auf der Straße sehen lassen. Wir waren aber mit unseren abendlichen Meetings um diese Zeit oft noch nicht am Ende. Also blieb man nicht selten bis zum Ende des »curfew« zusammen, also bis sechs Uhr morgens.
Ratespiele waren ein beliebter Zeitvertreib. Man mußte zum Beispiel Begriffe verständlich machen, ohne sie mit Worten zu erläutern. Einmal fiel mir die Aufgabe zu, »Opium für das Volk« darzustellen. Ich legte eine brennende Zigarette auf eine Bibel, aber keiner löste dieses einfache Rätsel. Ein anderes Mal mußte Ritter das »Nichts« raten; dazu mußte er Fragen stellen, die wir mit ja oder nein zu beantworten hatten. Also konnte gefragt werden, ob die zu ratende Sache im Raume anwesend, ob sie groß, lebendig, dem Tierreich angehörig sei und so weiter. Seine erste Frage lautete: »Abstrakt? Konkret?« Über die richtige Antwort stritten Hentig und ich stundenlang, buchstäblich solange, bis der »curfew« vorbei war. Wir streiten uns noch heute darüber.
Unvergeßliche Abende verbrachten wir im Göttinger Theater. Intendant war dort Fritz Lehmann, der große Oratoriendirigent. Durch ihn und alle Künstler wurde für uns unkundige und hungrige Kunstschüler die Welt der sprechenden und musizierenden Bühne in einzigartiger Weise offenbart. Wir erlebten den »Mord im Dom« von T.S. Eliot, »Die Fliegen« von J.P. Sartre, »Wir sind noch einmal davongekommen« von Th. Wilder, die Stücke von E. O’Neill, T. Williams, B. Brecht und anderen. In den ersten zwei Nachkriegsjahren inszenierte Lehmann die fünf großen Mozartopern, den Fidelio, zweimal Verdi (Macht des Schicksals und Maskenball), die Carmen und den Rosenkavalier. Auf den hintersten Plätzen gab es für uns Karten zum Preis von einer Mark. Wir besuchten jede der Opern, sooft es die Zeit zuließ, und haben sie auf diese Weise wirklich zu einem Teil unseres Inneren gemacht - ein lebenslanger Schatz, nur mit dem Nachteil, daß man immer leise mitsingen möchte, wenn man sie wieder einmal hört. Meine Frau schätzt dies gar nicht, und sie hat natürlich vollkommen recht.
Vielen
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