Vier Zeiten - Erinnerungen
herauskommen?
Auf halber Treppe traf ich mich mit einer anziehenden und willensstarken jungen Frau. Wir machten einen Plan. Sie sollte mitten in der Nacht ein großes Geschrei anfangen, den russischen Posten dann erklären, sie sei schwanger und schon in Wehen, habe schweres Gepäck, ihr Bräutigam sei unten im Haus und müsse sie mit ihren Sachen zum nächsten Arzt bringen. Alles geschah, wie besprochen und erhofft. Die Wachtposten wollten Ruhe im Haus. Ich wurde als Bräutigam alarmiert, und wir wurden beide in die Nacht entlassen. Nach zwölf Stunden kam diese meine erste Verlobungszeit, geprägt nur durch schweres Kofferschleppen für eine charmante und gewitzte junge Dame, auf dem nächsten Bahnhof zu ihrem planmäßigen Ende. In Halle fand ich die gesuchten Bücher und konnte weiterstudieren.
Diese Studienjahre gleich nach dem Krieg waren für uns eine erfüllende und prägende Epoche des Lebens. Noch einmal nach
der Soldatenzeit boten sie die Gelegenheit, einen Freundeskreis zu finden, der immer bestehenblieb. Im vorgerückten Alter sagte einmal jemand über mich, das Beste an mir seien meine Freunde. Etwas Schöneres hätte er gar nicht sagen können.
Axel Bussche war die moralische Autorität und der überzeugende Repräsentant unserer Generation. Schon im ersten Nachkriegssemester war er zum Asta-Vorsitzenden gewählt worden. In einem großen Diskussionsvortrag sprach er über das Thema »Eid und Schuld«. Die Universitätsleitung, aber auch die britische Besatzung taten gut daran, seinen Ratschlägen zu folgen. Leider blieb er uns nur kurz in Göttingen erhalten. Sehr bald wurde er nach England eingeladen. Mit seiner Hilfe kam es zu einem ersten Brückenschlag zwischen den Kriegsgenerationen der eben noch verfeindeten Völker. Es war überdies damals sehr schwer, ins Ausland zu reisen. Ein angesehener Juraprofessor, später Richter am Europäischen Gerichtshof, hatte mich zu zwei Semestern in die Schweiz nach Lausanne eingeladen. Ich erhielt aber, wie es damals üblich war, kein exit permit.
Einer der Freunde aus der Göttinger Zeit ist Klaus Ritter. Wir kannten uns schon aus dem Krieg. Er war Jurastudent wie ich, aber mit stärkeren philosophischen Neigungen. Seine Doktorarbeit schrieb er über »Naturrecht und Positivismus«, ein Fundamentalthema der Rechtsphilosophie. Sinngemäß schrieb sein Doktorvater unter die Arbeit, er habe sie nicht verstanden und bewerte sie daher mit ausgezeichnet. Dies war ein Ausdruck seiner Ehrlichkeit und seines hohen Respekts vor der eminenten Qualität seines Doktoranden. Später wurde Klaus Ritter ein wahrer Pionier in der wissenschaftlichen Politikbearbeitung. Das gab mir zu meinem Glück die Chance, eine engverwandte berufliche Blickrichtung mit der steten persönlichen Nähe zu verbinden. Mit keinem meiner Freunde habe ich durch alle Lebensphasen hindurch einen so kontinuierlichen und für mich immer erhellenden Gedankenaustausch über die Grundstrukturen der internationalen Politik gehabt wie mit ihm. Sein vom Herzen erwärmter Verstand ist eine wunderbare Gabe.
Mein Freund Klaus Ritter, den ich schon aus Kriegszeiten kannte, war der Pionier der unabhängigen wissenschaftlichen Politikberatung in Deutschland mit dem von ihm gegründeten Institut in Eggenberg bei München. Sein vom Herzen erwärmter Verstand ist eine große Gabe.
In der Studentenzeit entstand die Freundschaft mit Hartmut von Hentig. Unsere Väter waren Kollegen im alten Auswärtigen Amt gewesen, ohne sich dort je besonders nahegekommen zu sein. Das haben wir in unserer Generation gründlich verändert. Er ging streng mit sich um und hatte es folglich nicht leicht. Eines Tages erwischte er unterwegs durch Hitchhiking einen amerikanischen Wagen mit Thornton Wilder als Insasse. Dieser Dichter und Menschenfreund stand ohnehin schon im Mittelpunkt unserer dankbaren Gefühle. Nun trug er auch noch dazu bei, dem ihm unbekannten jungen Deutschen einen Zugang in die USA für einen zweijährigen Studienaufenthalt zu öffnen. Diese Tat und die folgende Zeit haben Hentig unendlich gutgetan. Im Lauf der Jahrzehnte machte er sich als Pädagoge einen großen Namen in der Bildungsforschung und -praxis. Stets habe ich dafür als entscheidend sein ursprüngliches, ihn bewegendes Studienfach angesehen: das alte Griechenland. Wer hat es heutzutage schwerer als der Pädagoge? Hentig hat sich nie fesseln lassen. Mit seiner Willenskraft und Phantasie hat er es immer wieder vermocht, neue Wege zu finden, Modelle für
Weitere Kostenlose Bücher