Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard von Weizsäcker
Vom Netzwerk:
sondern auch des Vereinigten Königreichs. Aus dem Konflikt wuchsen allmählich gemeinsame Probleme hervor. Von solchen Vorahnungen waren aber die meisten Briten bis zum Ende des zweiten
Krieges noch ziemlich weit entfernt. Wiederum war es Churchill, der als einer der ersten die Zeichen der kommenden Zeit erkannte. Sein großer Appell an die Europäer in seiner Züricher Rede des Jahres 1946 ist dafür ein Beweis.

Berufswahl, Heirat; Familie Kretschmann
    Die Göttinger Studien waren beendet, der Nürnberger Prozeß abgeschlossen. Nun ging es für mich um berufliche Entscheidungen. Ich war Anfang dreißig, es wurde damit also höchste Zeit. Ein mir befreundeter Mentor meinte, ich solle die konkrete Berufssparte in ihrer Bedeutung für mich nicht überschätzen. Früher oder später würden sich meine Hauptinteressen in jedem gewählten Beruf durchsetzen. Für das eigene Lebensgefühl sei auf die Dauer etwas anderes das Wichtigste: möglichst keine Vorgesetzten, möglichst wenig Kollegen. Die Selbständigkeit sei ein unüberbietbares erzieherisches Gut.
    Er hat gut reden, dachte ich. Sein Rat kam mir damals ziemlich hochgestochen vor. Ein ererbter Berufseinstieg stand mir nicht zur Verfügung. Frei wählen konnte ich auch nicht. Niemand bewarb sich um mich, ich hatte mich um Berufe zu bewerben. Und so habe ich selbstverständlich auch gelernt, unter den verschiedenartigsten Vorgesetzten zu arbeiten. Es gab gute und schlechte unter ihnen, abschreckende Beispiele und wahre Vorbilder.
    Dennoch lernte ich mit wachsender Lebenserfahrung den Rat jenes Mentors immer höher schätzen. Sein Ausspruch und Zutrauen waren ein heilsamer Ansporn.
    Meine Hauptinteressen waren Politik und Zeitgeschichte. Meine Hoffnung war es, dabei den Kontakt mit den Freunden aus dem Krieg und der Universität bei den nun kommenden praktischen Tätigkeiten zu erhalten und zu nutzen.

    Die erste Frage, die sich mir stellte, ging in Richtung des Instituts für Zeitgeschichte, das sich mittlerweile in München unter der vortrefflichen Leitung von Hermann Mau etabliert hatte. Bei meiner Nürnberger Aufgabe hatte ich schon als einer der ersten Deutschen Einblick in Akten aus der nationalsozialistischen Zeit erhalten und darüber Schriftsätze von mehr als tausend Seiten verfaßt. Es schien für mich nahezuliegen, diese Arbeit in München fortzusetzen. Das Institut war nicht abgeneigt, mir die Chance dafür zu bieten.
    Nach reiflicher Überlegung entschied ich mich aber anders. Die wissenschaftliche Ader der Familie hatte ich nicht geerbt. Vor allem aber wollte ich den Nationalsozialismus nicht lebenslang erforschen, sondern gemeinsam mit den Freunden das Mögliche tun, um aus den selbst miterlebten Lehren der jüngsten Vergangenheit konkrete Folgerungen zu ziehen.
    In Richtung auf die Politik gab es mehrere denkbare Ansätze. Sollten wir zum Beispiel versuchen, alsbald einen Anlauf auf ein politisches Wahlamt zu nehmen? Aber wie und wohin? Die Parteien und ihre Führungen machten uns die Orientierung zunächst nicht ganz leicht. Sie formierten sich erst allmählich und trugen interne Kämpfe um Richtung und Macht aus. Das war normal und legitim, bedurfte jedoch noch größerer Klarheit.
    An der Spitze der CDU verfolgte Konrad Adenauer mit Vehemenz den Anschluß an den Westen, während es Jakob Kaiser und seinen Freunden in derselben Partei in erster Linie um die gesamtdeutsche Option ging. Halbwegs vergleichbar war es bei der SPD. Dort votierte vor allem der Berliner Bürgermeister Ernst Reuter zugunsten der amerikanischen Forderung, wir Westdeutschen sollten möglichst rasch einen eigenen Staat gründen. Andere Sozialdemokraten, unter ihnen Kurt Schumacher, zögerten gegenüber einem solchen Schritt, weil sie in ihm einen deutschen Beitrag zur Teilung des Landes fürchteten, den sie vermeiden wollten. Bei der FDP ging es im Südwesten mit
Theodor Heuss, Reinhold Maier und Wolfgang Haussmann auf altvertraute und bewährte Weise wieder gut liberal zu, während die Zweigstelle derselben Partei in Niedersachsen damals eindeutig zu weit rechts und zu wenig liberal war.
    Allen internen Flügelkämpfen zum Trotz aber waren sich die Führungsriegen der Parteien in einem ziemlich einig: Die Väterund Großvätergeneration war wieder da. Jetzt waren die alten Veteranen aus der Weimarer Zeit und die Heimkehrer aus der äußeren oder inneren Emigration an der Reihe, wir jungen Kriegsteilnehmer dagegen noch lange nicht. Jugend war damals in der Politik nicht sehr

Weitere Kostenlose Bücher