Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard von Weizsäcker
Vom Netzwerk:
Justizdienst gestellt. Das war so üblich, man wollte diese berufliche Option aus Sicherheitsgründen offenhalten. Die Justizbehörden waren natürlich vollkommen frei, je nach ihren Eindrücken von den Examensleistungen der Kandidaten so oder anders zu entscheiden.
    Nun hatte ich es zwar nicht bis zur Mitgliedschaft in der ebenso bewunderten wie berüchtigten Klasse der Einserjuristen gebracht. Dennoch hatte meine Assessornote höheren Ortes genügend Wohlwollen ausgelöst, mir unmittelbar nach dem Examen tatsächlich die Einberufung zum Dienst als Richter einzutragen. Ich aber war drei Tage nach dem letzten Prüfungstermin zu meiner Hochzeitsreise aufgebrochen. Keine Post der Welt schickte mir Einberufungsschreiben und Mahnungen des Oberlandesgerichtspräsidenten an den Golf von Salerno nach Ravello nach. Und so fand ich bei Rückkehr die verdiente Quittung vor:
Ich war aus dem Beamtenverhältnis entlassen! So steht es, wie ich fürchte, bis heute in meinen Personalakten, die wahrscheinlich immer noch irgendwo geführt werden.
    Auch dies war keine berufliche Katastophe. Allzu ernsthaft hatte ich den Richterberuf nicht angestrebt, so hoch mein Respekt vor dieser Aufgabe immer gewesen ist. Statt dessen kam ein konkretes Angebot aus der Wirtschaft. Ich sollte als sogenannter wissenschaftlicher Hilfsarbeiter beim Bergbau der Mannesmann Aktiengesellschaft eintreten, einem der Großunternehmen in der Montanindustrie.
    Gegen die Tradition meiner Familie tat ich nun, noch vor Assessorexamen und Heirat, den ersten beruflichen Schritt in die Wirtschaft. Er entsprach dem Wunsch nach Unabhängigkeit und nach Erweiterung des eigenen Horizonts in eine für die damalige Aufbauzeit maßgebliche Richtung unseres Landes. Die Bezahlung war es überdies nicht, von der ein unwiderstehlicher Reiz ausgegangen wäre. Vielmehr begann ich mit der kargen monatlichen Vergütung von DM 120 nebst einem Tagegeld von DM 6 für jeden in Gelsenkirchen verbrachten Arbeitstag. Dort lagen die Steinkohlezechen des Unternehmens, und neben dem Schalker Markt befand sich mein Arbeitsplatz.
    Als ich fast drei Jahrzehnte später, inzwischen als Vizepräsident des Deutschen Bundestages, wieder einmal zu Besuch beim Bergbau in Gelsenkirchen war, empfing mich der Betriebsrat der Zeche nach einer wohlgelungenen Grubenfahrt mit einem Gutschein für DM 6 als Tagegeld, weil ich nach meinem alten Arbeitsverhältnis darauf einen Anspruch hätte. Das war eine herzliche, für den Pütt typische Geste mit pädagogischem Hintersinn.
    In der Stadt Gelsenkirchen hatte ich es mit den liebenswertesten Menschen zu tun. Schräg gegenüber einer großen Schachtanlage wohnte ich in der Bismarckstraße als Untermieter bei einer Steigerswitwe, die mich mit der menschenfreundlichen und unaufgeregten Atmosphäre des Ruhrgebiets vertraut machte.
Hier kam es nun bald auch zu entscheidenden privaten Ereignissen.
    Die Schutzpatronin des Bergbaus ist die heilige Barbara. Ihr zu Ehren fand alljährlich ein Barbara-Fest statt, an dem mein Chef beim Mannesmann Bergbau, Bergassessor Hans J. Braune, mit Angehörigen seiner Familie teilnahm. Dank seines guten Auges und warmen Herzens war er auch einer jungen Nichte besonders zugetan, die er gern auf das Fest einladen wollte. Ein gütiges Schicksal bewog ihn dazu, mir die ehrenvolle Aufgabe anzuvertrauen, die überaus anmutige Abiturientin zu geleiten. Sie heißt zwar Marianne, wurde aber damals oft Barbara genannt, und so war mir auch die Schutzheilige wohlgesinnt. Kurzum, wenig später gab mir Marianne ihr Jawort und wurde seither das Glück meines Lebens und unserer Familie.
    Marianne von Kretschmann stammt mütterlicherseits aus Schleswig-Holstein. Die Familie ihres Vaters kommt aus Franken, und ihre Chronik berichtet von manchen ungewöhnlichen Schicksalen. Ein Ahnherr sei, wie es heißt, als Hussit den Feuertod gestorben. Ein anderer war als Nürnberger Schuhmachermeister Zeit- und Zunftgenosse von Hans Sachs, doch leider ohne daß Richard Wagner ihn entdeckt hätte. Ein dritter war Nürnberger Feldhauptmann.
    Zu Anfang des 19. Jahrhunderts befreite ein Vorfahr Kretschmann als Finanzminister das damalige Herzogtum Sachsen-Coburg-Saalfeld von einem gewaltigen Schuldenberg. Dafür mehrte er die Kultur am Coburger Hof, indem er Jean Paul und andere große Geister bewog, Coburg den Vorzug vor Weimar zu geben. Jean Paul nannte ihn »einen herrlichen philosophischen und recht geachteten Kopf«. Danach erzog Kretschmann den Coburger Prinzen

Weitere Kostenlose Bücher