Vier Zeiten - Erinnerungen
Leopold zur Sparsamkeit, was sich zum Wohl des Königreichs Belgien auswirkte. Denn dieser Leopold wurde 1831 der erste König der Belgier. Seither genießt der Name Kretschmann ein gutes Ansehen in belgischen Geschichtsbüchern.
Später siedelte die Familie meiner Frau in die Mark Brandenburg um. Dort wurde ein Enkel des Coburger Erziehers Pfarrer, sein Bruder ein preußischer General, der es in Frankreich und Deutschland zu einer Berühmtheit brachte, die er nicht gesucht hatte. Mit hoher Auszeichnung für seine Tapferkeit nahm er 1870/71 am preußisch-französischen Krieg teil. Beinahe täglich schrieb er seiner Frau einen Brief. Darin schilderte er voller Wahrheitsliebe und Mitgefühl die Leiden der Zivilbevölkerung und der Soldaten im Krieg.
Eine seiner Töchter, Lily, fand später zu Hause diese Briefe und war tief von ihnen beeindruckt. Mit der ganzen ihr zur Verfügung stehenden Kraft wollte sie etwas für den Frieden tun. So entschloß sie sich, die Briefe ihres Vaters zu veröffentlichen. Bald darauf bemächtigte sich ein französischer Verleger dieser Publikation. Damals herrschte in Frankreich Revanchestimmung. Preußen-Deutschland war der große Feind. Da konnte es nun nichts Besseres geben als die Bekenntnisse eines hohen preußischen Offiziers, der von den Leiden des Krieges berichtete. Als »Lettres de Kretschmann« wurden sie ein Bestseller auf dem französischen Büchermarkt. Doch sie dienten nicht, wie Lily wollte, als Propaganda gegen den Krieg, sondern gegen Preußen.
Um so schwerer hatte es die Tochter Kretschmann zu Hause im militärisch-konservativen Deutschland Wilhelms II. Durch Heirat hieß sie inzwischen Lily Braun. Mit ihrem idealistischen Temperament wurde sie Pazifistin und Anhängerin der Reformsozialisten, was ihr heftige Auseinandersetzungen mit Clara Zetkin eintrug. Lily schrieb nun selbst lesenswerte und in hohen Auflagen verbreitete Bücher. Am bekanntesten wurden ihre »Memoiren einer Sozialistin«, eine nach wie vor lohnende und gegenwärtig neu verlegte Lektüre. Ohne den Ansichten der Autorin in allem zu folgen, hatte meine Mutter, wie schon erwähnt, vor dem Ersten Weltkrieg als junges Mädchen die Texte dieser mutigen Frau voller Achtung gelesen.
Meine Frau Marianne ist die Mitte der Familie. Ihre zurückhaltende, aber entschiedene Haltung hat wesentlich dazu beigetragen, die Villa Hammerschmidt zu einem kultivierten Ort des Gesprächs zu machen.
Im Kreis der Familie im Frühjahr 1990. Von links: der zweite Sohn Andreas, Bildhauer an der Münchner Akademie, meine Frau, unsere Schwiegertochter Gabriele, neben mir ihre Tochter Viktoria auf dem Arm ihres Mannes Robert, unseres ältesten Sohnes, Professor der Wirtschaftswissenschaften, meine Tochter Beatrice, Journalistin in Berlin, vor uns liegend der jüngste Sohn Fritz, Arzt und Molekularbiologe, und Sophie, die älteste Enkelin.
Mariannes Familie fand in Potsdam ihr Lebenszentrum, bis der Zweite Weltkrieg und die Teilung Deutschlands die Kretschmanns auseinandertrieb. Vorfahren und Angehörige liegen auf dem Bornstedter Friedhof in Potsdam, der noch heute auf seine Weise Zeugnis von den guten Seiten preußischer Geschichte ablegt.
Wirtschaftspolitische Abteilung bei Mannesmann
Beruflich verbrachte ich die nächsten Jahre im Bereich von Kohle und Stahl, was mir die Chance zu einer Lehrzeit in einem Zweig der deutschen Wirtschaft bot, der beim damaligen Wiederaufbau des kriegszerstörten Landes von zentraler Bedeutung war. Einerseits brauchte jedermann die Produkte der Montanindustrie. Zum anderen wurden bei ihr wesentliche Weichenstellungen für neue wirtschafts- und sozialpolitische Grundstrukturen unserer Gesellschaft vollzogen.
Was wir heute zu den selbstverständlichen Merkmalen unseres Systems zählen, wurde zu jener Zeit Schritt für Schritt entwickelt. Dazu gehörte eine umfassende Reform des Unternehmens- und Kartellrechts, ferner das Betriebsverfassungsgesetz und die Mitbestimmung in den Organen der großen Unternehmen, schließlich im internationalen Bereich die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die sogenannte Montanunion; sie war der erste und entscheidende Schritt auf dem Weg zu unserer heutigen Europäischen Union.
Mit solchen gesellschaftspolitischen Strukturfragen hatte ich als Leiter der wirtschaftspolitischen Abteilung bei Mannesmann zu tun. Vielfach waren es Streitthemen zwischen Unternehmen, Tarifpartnern und politischen Parteien. Mit Überzeugung und mit wechselhaftem Erfolg
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