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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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klarer war als sein Wesen, verständlicher vielleicht als manche seiner Handlungen, und daß das Lehrreiche an seinem Beispiel gar nicht nur seine politische Rolle war; anziehend war vielmehr vor allem seine menschliche Gestalt, so schwer zugänglich gerade sie den Anklägern und manchen Historikern erschien. Die Zeit in Nürnberg hat mich gelehrt, mir selbst und vor allem anderen jungen Menschen nur zu wünschen, niemals in eine Lage zu kommen, in der mein Vater war; wenn aber, dann mit derjenigen Tiefe des eigenen Gewissens zu leben und zu handeln, die ich bei ihm durch die Jahre hindurch miterlebt habe.
    Was an ihm deutlich wurde, war eine menschliche Existenz mit ihrem Horizont und Handeln in einer extremen Situation. Wie sollen wir dem Drama der Geschichte gerecht werden, das uns überwältigt und dessen Mitwirkende wir doch sind? Handeln und Leiden ist eins, sagt T.S. Eliot. Keiner ist ohne Schuld. Wer die extreme Lage durchlebt, dem fehlen die Begriffe, sie zu beschreiben. Wer sie nicht miterlebt hat, soll sie angemessen beurteilen; kein Weg führt daran vorbei. Doch wie sollen wir bei aller notwendigen Suche nach irdischer Gerechtigkeit diesem Drama der Geschichte gerecht werden?
    Nach achtzehnmonatiger Verhandlung verurteilten zwei der drei Richter meinen Vater zunächst zu sieben Jahren Gefängnis und wandelten diesen Spruch kurz darauf in eine fünfjährige Haftstrafe um. Der dritte Richter plädierte von vornherein auf
völligen Freispruch und legte dazu eine ausführlich begründete »dissenting opinion« vor. Drei Tage lang dauerte die Verlesung des Urteils. Als der meinem Vater zugedachte Spruch verkündet wurde, fiel sein Kopfhörer mit Gepolter zu Boden. Es war aber keine Gemütsaufwallung, sondern reines Versehen. Er nahm die Sätze mit einer inneren Ruhe auf, wie ich sie beinahe seit Jahren nicht mehr bei ihm erlebt hatte und wie ich sie nicht aufbringen konnte. Aber ganz gewiß hätte ich in diesem Moment nirgendwo anders in der Welt sein wollen als hier in diesem Saal, wenige Meter von ihm entfernt. Es war der 13. April 1949, mitten in der Karwoche. »Sie gibt den Gedanken von selbst die gute Richtung«, sagte er dazu, »das eigene Ich wird da zur gebührenden Null.«
    Einige Zeit später trat der Hohe Kommissar in der amerikanischen Besatzungszone, John D. McCloy, in Aktion. Er war keine formelle Berufungsinstanz; so etwas gab es gar nicht. Aber er nahm Stellung und ordnete die sofortige Haftentlassung meines Vaters an; es war seine erste Maßnahme zu den Nürnberger Urteilssprüchen. Dies geschah im Herbst 1950.
    In ihrem Leitartikel vom 16. Oktober 1950 schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung: »Die vielen von Weizsäcker vor Tod und KZ bewahrten Menschen haben das Gericht seinerzeit nicht zu überzeugen vermocht. Die Forderungen nach Recht für ihn sind nie verstummt... (McCloy) hat die vielen, vor allem ausländischen Stimmen, die den Urteilsspruch als ungerecht empfinden, gewogen und hat dabei das Nürnberger Urteil aus dem Jahre 1949 als zu leicht empfunden. Er hat es de facto aufgehoben.«
    Churchill selber hatte schon früher das Verfahren gegen meinen Vater bei einer öffentlichen Unterhausdebatte als einen »deadly error«, einen tödlichen Irrtum der amerikanischen Anklagebehörde bezeichnet.

Großbritannien und der deutsche Widerstand
    Ein allgemeiner zeithistorischer Nachtrag sei mir noch erlaubt. Er bezieht sich vor allem auf Großbritannien, die Schlüsselmacht im Ringen um den Kriegsausbruch, im Widerstand gegen die Aggressionen Hitlers und in der Vorbereitung einer Nachkriegsordnung. Von London war im Frühjahr 1939 nach der Besetzung Prags die entscheidende Warnung ausgegangen, jede weitere Angriffshandlung Hitlers werde zum Krieg führen. Die Briten waren es, die Hitler sofort nach dem Angriff auf Polen den Krieg erklärten. Sie waren in Europa die politisch und moralisch führende Macht gegen den nationalsozialistischen Ungeist. Nach der Niederlage Frankreichs leisteten sie in der für sie schweren Zeit den maßgeblichen Widerstand, bis Hitler seine Kräfte im Rußlandkrieg verbrauchte und der alles entscheidende Kriegseintritt Amerikas erfolgte.
    Auf verborgenen Kanälen hatte es intensive Kontakte zwischen deutschen Emissären und maßgeblichen britischen Partnern gegeben. Diesen Deutschen, unter ihnen vor allem meinem Vater, ging es darum, die Briten zu einer öffentlich erklärten, unmißverständlich festen Haltung gegen Hitlers Angriffspläne zu bewegen, um den

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