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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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die eines Mitarbeiters der Anklage einzutauschen. Zwei Tage nach jener protokollarischen Vernehmung wurde er aus der Einzelhaft entlassen. Wenige Tage später publizierte die »Neue Zeitung« auf ihrer ersten Seite eine längere handgeschriebene Erklärung von Gaus, in der er sich, wie die Zeitung selbst kommentierte, zur Kollektivschuld der deutschen Beamten bekannte. Ferner war zu lesen, daß die Zeitung den Text von Kempner erhalten habe.
    In den ersten Vernehmungen meines Vaters vor dem Prozeß war es zu ähnlichen Ansinnen der Kooperation von seiten der Anklage gekommen. Befremdet wies er dies von sich. Daraufhin schaltete Kempner sofort auf die Haltung des feindlichen Ermittlers um. Ein tiefer Graben mißtrauischer Abneigung zwischen beiden entstand. Meinem Vater war und blieb es moralisch und menschlich unbegreiflich, was es mit Wahrheitssuche und Gerechtigkeit zu tun haben sollte, einen Untersuchungshäftling zum mehr oder weniger manipulierten Mithelfer der Anklage zu machen und ihn dafür mit Anklageverschonung zu belohnen. Er war selbst auf das lebhafteste an einer profunden und ganz offenen Erörterung mit den Anklagevertretern interessiert, um einer Aufklärung über die politischen und moralischen Bedingungen für einen Widerstand gegen eine Gewaltherrschaft durch Verbleiben im Amt näherzukommen. Es waren nicht die bohrenden Fragen nach dem Anschein von Zweideutigkeit seines Weges, die er scheute und die ihn verletzten. Was er aber nicht ertrug, war die Kempnersche Taktik, ihn von vornherein als unglaubwürdig, als Feind der Wahrheit zu behandeln. Je mehr er empfand, daß ihm jedes Wort im Munde herumgedreht wurde, je mehr er sich von Mißtrauen und gestellten Fallen umgeben fühlte, desto mehr verschloß es ihm den Mund.
    Kempner dürfte bei seinen Prozeßmethoden kaum von Skrupeln geplagt gewesen sein. Warum auch? Er handelte, wie er war und wie es das amerikanische Verfahrensrecht zuließ. Er war der
Prototyp des anklagenden Verfolgers. Ohne Zweifel sind seine späteren Beiträge zur Aufklärung von Verbrechen, zu zeitgeschichtlichen Erkenntnissen und ganz allgemein zur Wachsamkeit als Bedingung der Freiheit ebenso wie zum liberalen Rechtsstaat sehr groß. Ich habe sie stets geachtet. In den folgenden Jahrzehnten haben wir manchmal miteinander korrespondiert. Zu einer näheren Beziehung zwischen uns ist es dennoch nicht gekommen, schon gar nicht in Nürnberg. Während des Verfahrens sagte Kempner einmal zu mir, unsere Verteidigungsarbeit sei zwar gut, litte aber unter einem Fehler: Wir hätten ihn, Kempner, zum Verteidiger meines Vaters machen sollen. Konnte er wirklich nicht verstehen, daß dies für mein Empfinden der reine Zynismus war? Jedenfalls reichte mein Vorrat an Humor dafür nicht aus.
    Familie und Freunde bemühten sich, das verletzte Verstummen meines Vaters aufzutauen. Er verstand dies wohl; einmal schrieb er mir im Gerichtssaal einen Zettel: »Manche denken ja sogar, meine heutige Aufgabe sei wichtiger als meine damalige« -also mit seinen Erfahrungen in einer Schlüsselposition an der nachträglichen Aufklärung mitzuwirken. Aber es fiel ihm schwer.
    Sein Leben lang hatte es ihm nicht gelegen, über sich selbst zu sprechen. Es war ihm stets als aufdringlich erschienen, anderen Leuten von seinen eigenen Motiven und Taten zu erzählen. So kostete es ihn auch eine große Überwindung, seine Memoiren abzuschließen und zu publizieren, worum wir ihn nachdrücklich gebeten hatten. Schließlich überzeugte ihn nur die Begründung, daß er mit einer solchen Arbeit etwas zum Unterhalt für Frau und Tochter beitragen könne.
    Auf seinem bisherigen Lebensweg waren ihm die Menschen zumeist mit Vernunft und Zutrauen begegnet. Doch gegen das ihm so unverständliche und kränkende Mißtrauen, welches ihm hier begegnete, hatte er nur die ganz hilflose Waffe der Verschlossenheit. Sie war seine Art eines Selbstschutzes, die ihm
aber als Hochmut angekreidet wurde, wenn sie sich mit der stillschweigenden Erwartung verband, verstanden zu werden. Es fiel ihm schwer, sich gegen Mentalität und Methoden der Anklage zu verteidigen. Seinem Herzen folgend, hätte er geschwiegen.
    Hier lag die tiefste Schwierigkeit, mit der er immer wieder rang, und zugleich für mich die bewegendste menschliche Erfahrung mit dem eigenen Vater. Nie hat mein Vater für sich und seinen Charakter geworben, bei Gegnern sowenig wie bei Freunden. Und doch hat mich gerade die harte Prozeßzeit erkennen lassen, daß an ihm nichts

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