Vier Zeiten - Erinnerungen
schwertaten.
Unvergeßlich bleibt mir eine Szene auf dem Kölner Kirchentag 1965. Es war kurz nach dem hoffnungsvollen Abschluß des II. Vatikanischen Konzils unter dem Pontifikat von Johannes XXIII. Als Protestanten waren wir in der ganz überwiegend katholischen Rheinmetropole auf das herzlichste aufgenommen. Der katholische Oberhirte, Kardinal Frings, gab uns zur Eröffnung in seinem Dom-Museum einen Empfang. Er hielt aber keine der üblichen Begrüßungsreden. Vielmehr trug er, der greise, kleine, fast erblindete Mann, aus freiem Gedächtnis eine Bibelarbeit über den Text aus dem Galaterbrief des Apostels Paulus vor, der der Losung unseres Kirchentages zugrunde lag: »In der Freiheit bestehen«. Es war ein wahrhaft packender, ergreifender ökumenischer Höhepunkt unter Christen in Deutschland. Niemand konnte sich ihm entziehen. Einen Meter neben mir standen Konrad Adenauer und Martin Niemöller und umarmten sich - diese beiden Männer, die sich sonst immer nur im Streit darüber begegnet waren, was es politisch konkret bedeutet, in der Freiheit zu bestehen.
Niemöller bin ich oft begegnet. Einmal war es bei seiner Verabschiedung als Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche von Hessen und Nassau. Ungefähr fünfzehn Redner sprachen hintereinander zu seinem Lobe, Ministerpräsidenten, Bischöfe und Laien. Er hörte es sich mit wachsender Erregung an, stürmte zum Schluß auf das Podium, bedauerte zunächst, daß seine tödlich verunglückte Frau nicht mehr habe anhören können, was für einen fabelhaften Mann sie gehabt habe, und rief dann laut an die Adresse von uns Festrednern: »Aber es war alles falsch, was Sie gesagt haben.« Und dann bekannte sich dieser streitbare Christ zu seinen Fehlern. Sein autobiographisches Buch trug den Titel: »Vom U-Boot zur Kanzel«. Er hatte bei der Marine gedient. Mein Vater pflegte zu sagen, das Buch hieße eigentlich: »Mit dem U-Boot auf die Kanzel«.
Der Laienarbeit im Evangelischen Kirchentag war ich während der ganzen Nachkriegszeit verbunden und blieb auch als Bundespräsident regelmäßiger Teilnehmer. In Düsseldorf hielt ich 1985 eine Ansprache zur Identität der Deutschen in der Zeit der Teilung. Ganz rechts beim Lautsprecher Professor Wolfgang Huber, heute Bischof der Landeskirche von Berlin-Brandenburg.
Ein Schwerpunkt ganz eigener Art kam dem Kirchentag durch seine Wirkung im geteilten Deutschland zu. In kurzer Zeit wurde er zur stärksten, öffentlich sichtbaren gesamtdeutschen
Klammer. Zum Abschluß des Leipziger Kirchentages im Jahre 1954 kamen auf der Rosenthal-Wiese über sechshunderttausend Menschen aus beiden Teilen Deutschlands zusammen. Es waren Katholiken und Protestanten, Christen und Nichtchristen, alle von dem Verlangen bestimmt, sich in der Gemeinsamkeit zu stärken. Der Kirchentag ging hier frühzeitig einen Weg voran, der bis in die allerletzte Phase des SED-Regimes immer stärker zum Vorschein kam: Menschen versammelten sich unter einem schützenden kirchlichen Dach, nicht primär um am christlichen Gemeindeleben im Alltag teilzunehmen, sondern um Freiheit empfinden und für sie eintreten zu können.
Die Verantwortung für die Kirchentage lag in der Hand des Präsidiums. Dafür gab es Wahlen, die gesamtdeutsch stattfanden. Mit dem Bau der Mauer im August 1961, der wenige Tage nach dem letzten gesamtdeutsch besuchten Kirchentag in Berlin erfolgte, wurde der Kontakt schwer, aber er riß nie ab. Hier fiel nun mir bald eine besondere Aufgabe zu, denn Thadden legte aus Altersgründen sein Präsidentenamt nieder und forderte mich auf, sein Nachfolger zu werden. Sein Vorschlag traf mich völlig überraschend. Mir fehlte das meiste, was ihn auf seinem Weg persönlich geprägt hatte. Auch besaß ich weder sein dynamisches pietistisches Temperament noch seine persönliche innerkirchliche Geschichte und Erfahrung. Um es mit den Worten von Paul Tillich auszudrücken: Ich fühlte mich als ein Teil eher der latenten Kirche als der manifesten, der ich nicht immer ohne Zweifel, wenngleich stets erwartungsvoll gegenüberstand. Und nicht zuletzt hatte ich einen Beruf, der mir, wie ich fürchtete, kaum ausreichend Zeit für die arbeitsreiche und dabei doch ehrenamtliche Tätigkeit des Kirchentagspräsidenten belassen würde.
Aber wie alle seine Pläne, so verfolgte Thadden auch diesen mit der ihm eigenen Zähigkeit. Und so kam die Sache für mich zum Schwur. An der Faszination der Aufgabe im Kirchentag gab es für mich keinen Zweifel. Mich dafür zu
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