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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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besuchten den neugeschaffenen Kirchentag natürlich
nicht im Zeichen von Karl Marx, sondern angesichts einer ständig gewachsenen Säkularisierung. Die Gesellschaft, in der wir leben, duldet die Kirchen und gibt Hilfestellung für ihre Aufgaben, unterwirft sich aber keiner kirchlichen Anleitung. Sie sucht ihre Erkenntnisse und Verhaltensnormen in eigener Entscheidung.
    Laien im Sinne des Kirchentages sind Fachleute in der säkularen Gesellschaft, die sich für ihr Leben in dieser Welt am christlichen Glauben orientieren, so gut sie es vermögen. Sie wollen keinen klerikalen Einfluß fördern, sondern sich mitverantwortlich im Zusammenleben engagieren. Wenn sie dort etwas zu bewirken suchen, dann müssen sie sich um die Maßstäbe geschichtlicher Erfahrung bemühen. Sie wollen und können nicht eine Politik im Namen Gottes verkünden, wie es bald Revolutionäre, bald Ultrakonservative so oft beanspruchen. Solches hätte der ebenso fromme wie nüchterne Gründer Thadden nie ertragen.
    Die Resonanz auf seinen Aufruf übertraf alle Erwartungen. Bald waren auf den zunächst jährlichen, später zweijährlichen Treffen riesige Messehallen der Ballungszentren von vielen Tausenden Teilnehmern überfüllt, wenn brennende Fragen der Zeit kontrovers und doch verständigungsbereit behandelt wurden. Viele, die sich im Alltag isoliert fühlten, suchten auf dem Kirchentag das Erlebnis der Zusammengehörigkeit. Es war für sie ein »Tag« im Sinne einer Versammlung von sonst verstreuten Bekenntnissen. Sie suchten danach, die Grenzen von Gemeinden, Landeskirchen und Konfessionen zu überwinden.
    Es gab innerchristliche und allgemein gesellschaftliche Themen. Reform der Volkskirche und Militärseelsorge wurden lebhaft diskutiert. In den theologischen Arbeitsgruppen kam es bei den biblischen Texten zum Streit zwischen strenger Wortgläubigkeit und deutender Entmythologisierung. Wege zum Frieden mit den ehemaligen Kriegsgegnern kamen ebenso nachhaltig zur Sprache wie die Hilfe für die dritte Welt. Gemeinsam riefen Bundestagspräsident
Hermann Ehlers und der Theologe Helmut Gollwitzer zum politischen Engagement auf, ihren höchst unterschiedlichen Positionen zum Trotz. Gewerkschaftsführer und Unternehmer debattierten über das Soziale in der Marktwirtschaft. In aller Klarheit redete der christdemokratische Kultusminister Edo Osterloh mit dem sozialdemokratischen Fraktionsvorsitzenden Fritz Erler über die Wahlkampfparolen der Parteien und bestätigte ihm ohne Zögern, daß ein Wahlsieg der SPD keinen Untergang Deutschlands bedeuten würde, wie man es aus dem Bonner Palais Schaumburg gehört hatte.
    Einen starken Eindruck hinterließ mir auf den Kirchentagen die Arbeitsgemeinschaft »Juden und Christen«. Hier kam es zu den ersten ernsthaften Gesprächen nach dem Holocaust. Es waren Teilnehmer aus Israel und der Bundesrepublik, vor allem aber jüdische und christliche Theologen im Dialog. Unvergeßlich ist mir, wie der aus Deutschland nach Israel ausgewanderte Ernst Simon jüdische Bibelauslegungen vortrug, von denen jeder evangelische Professor der systematischen Theologie etwas lernen konnte. Mit unerbittlicher, aber nicht unversöhnlicher Wahrheitsliebe redete uns der Düsseldorfer Rabbiner Robert Raphael Geiss ins Gewissen, indem er das geschichtliche Verhalten von Christen an den Grundsätzen ihres Glaubens maß. Aber auch den Teilnehmern aus Israel wurde keine Frage nach ihrer Verantwortung für die Palästinenser im Nahen Osten erspart.
    Man kann sich die Atmosphäre solcher Begegnungen heute nur noch schwer vorstellen. Es kam keineswegs zu übersteigerten religiösen Schwärmereien. Weit eher übten wir uns zusammen in jene Nüchternheit ein, die die Bibel dem Christen abverlangt, damit er die Mitverantwortung für seine Zeit und Welt mit Vernunft wahrnehmen kann. »Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst«, so lernen wir es im Religionsunterricht. Auf dem Kirchentag kam die genauere Übersetzung dieses Bibeltextes zur Geltung, die wir dem großen jüdischen Theologen Martin
Buber verdanken: »Liebe Deinen Nächsten, denn er ist wie Du«, also genauso auf sich selbst bezogen wie Du selbst; Du sollst nicht Deine Eigenliebe auf ihn übertragen, sondern in ihm Deine eigenen Schwächen und Egoismen erkennen und sie in der Begegnung mit ihm überwinden. Es ist Selbsthilfe, wenn Du ihm hilfst. Immer ging es um die Suche nach gemeinsamen Wegen zwischen Menschen, Gruppen und Gesellschaften, die sich von Hause aus miteinander

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