Vier Zeiten - Erinnerungen
nicht unfehlbar. Es gab eine wichtige Aufgabe, die er vernachlässigte, auch in dem Gespräch mit uns: Er tat wenig, um die junge Generation zu einer lebendigen Beteiligung an der Demokratie zu bewegen. Sie sah in ihm den führenden Staatsmann, der in der Politik polemisch kämpfen konnte, ganz ohne sich unnötig aufzuregen. Sie erlebte einen ziemlich autoritären Kanzler, der offenbar von seinen politischen Kollegen, ob Freund oder Gegner, nicht allzuviel hielt, ja ihrer kaum zu bedürfen schien. Sie empfand ihn als kühlen Skeptiker, mitunter als Menschenverächter. Gleichviel, ob dies einer inneren Wahrheit entsprach, entscheidend war die Wirkung. Und so wuchs nicht zuletzt auch unter solchen Eindrücken eine sogenannte »Ohne-mich«-Generation heran.
Zweifellos gab es für diese Entwicklung auch ganz andere Ursachen, die nichts mit Adenauer zu tun hatten. Man war vom verheerenden Versagen des nationalsozialistischen Staates mit seinem Anspruch auf Totalpolitisierung zutiefst desillusioniert und wollte sich nicht schon wieder engagieren. Mit dem Aufbau einer neuen privaten und beruflichen Existenz hatten die meisten genug zu tun. Bildungspolitische Zaghaftigkeit bei irgendeiner Art von politischer Erziehung kam hinzu. Gerade deshalb wäre eine werbende Wirkung durch die politische Führungsschicht so wichtig gewesen. Keiner hätte, wie Adenauer, die Autorität
gehabt, die Jugend für die neu begründete Demokratie zu mobilisieren. Er lenkte die Republik vortrefflich. Doch solange er am Ruder war, gewann er nur wenige exzeptionelle junge Leute für die aktive Mitarbeit im demokratischen Staat.
Bis sich eine neue Generation politisch zu Wort meldete, dauerte es lange. Erst in einem allmählichen Prozeß wuchs während der sechziger Jahre aus passiver Distanz das Aufbegehren einer aggressiven Minderheit hervor. Es war die Entwicklung vom Rhöndorfer Patriarchen zur Jugendrevolte 1968.
All ihren Illusionen und Brutalitäten zum Trotz bildete die 68er Bewegung mit ihrer großen Verweigerung einen tiefgehenden Einschnitt in der Nachkriegszeit. Sie war, wie Hans Magnus Enzensberger sie nennt, eine »zivilisatorische Notwendigkeit«. Allerdings war sie teuer erkauft.
Auf der einen Seite erzwang sie ein neues, aufrichtigeres Verhältnis zur braunen Vergangenheit und veränderte die Einstellung der Menschen zu Staat und Obrigkeit auf unumkehrbare Weise, so daß die demokratische Bürgergesellschaft eine neue Qualität bekam. Zugleich verprellte sie aber mit ihren vielfach absurden antiautoritären Tribunalen, ihrer Entschlossenheit zum Bruch mit jeglichem Tabu im menschlichen Bereich und ihrer Theoriebesessenheit viele reformwillige Bürger. Das Gros der Arbeitnehmerschaft entdeckte wenig Nutzen in den ideologischen Feldzügen. Zwar waren die Fassaden einer hergebrachten Privilegienordnung rasch zum Einsturz gebracht. Doch nun begann eine bis heute nicht fündig gewordene Suche nach einem ethischen Minimalkonsens, ohne den auf die Dauer eine humane Gesellschaft nicht funktioniert.
Das neue Zeitalter der Bürgerinitiativen und die 68er Bewegung waren aber nicht urplötzlich vom Himmel gefallen. Die ganzen sechziger Jahre waren alles andere als ein farbloses, zivilisatorisch verschlafenes Jahrzehnt. Sie waren von turbulenter, am Ende wilder Lebendigkeit geprägt. Die technischelektronische Entwicklung explodierte. Es gärte in der Kultur.
Junge Menschen begannen nach alternativen Lebensformen zu tasten.
Joseph Beuys propagierte seinen pädagogischen Kunstbegriff: Jeder Mensch, der Leben und Zukunft mitgestaltet, so lehrte er, ist auf seine Weise künstlerisch tätig. Die Phantasie ist kein musischer Winkel für ein paar Begabte, sondern eine Lebenshilfe für jeden in der technischen Welt.
Hans Werner Henze komponierte sein aufwühlendes polyphones Oratorium »Das Floß der Medusa«, das vom dramatischen Todes- und Überlebenskampf von Menschen aus der dritten Welt handelt und mit dem skandierten Ho-Chi-Minh-Rhythmus der Pauken endet.
Neben und mit der zeitgenössischen Literatur brach sich der junge Film seine selbstbewußte Bahn. Anders als »Papas Kino« entfaltete er eine Kunstform mit neuer, für junge Menschen prägender Kraft. Den Generationswechsel, der ihn trug, repräsentierten Alexander Kluge, Werner Herzog, Rainer Werner Faßbinder, Volker Schlöndorff und andere mit ihren Bindungen an Max Frisch, Heinrich Böll und Federico Fellini.
Die Beatles hatten ihre Premiere auf deutschem Boden, in den USA
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