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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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tauchte erstmals die Pille auf - beides im Jahre 1960. Kurz darauf erfolgte die erste Umkreisung der Erde durch Juri Gagarin.
    Inmitten solcher Turbulenzen gab es politische und geistige Anstöße von tiefgehender Wirkung. Der Auftakt kam 1960 vom jungen amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy. Er personifizierte förmlich den Drang zu neuen Ufern und entsprach damit auch einer Empfindung in Deutschland. Viele fühlten sich angesprochen, als Kennedy sein Amt mit den Worten begann: »Frage nicht, was Dein Land für Dich tun kann, frage, was Du für Dein Land tun kannst.« Umgeben und beraten von der intellektuellen Elite seines Landes strebte er mit der ihm eigenen Verbindung von Dynamik und rationaler Berechenbarkeit danach, einen Weg der Entspannung mit den Sowjets zu finden und die
Weltkriegsgefahren zu mindern. Eine faszinierende Wirkung ging von ihm aus. Die Welt erstarrte bei der Nachricht von seiner Ermordung. Hierzulande war die Trauer kaum geringer als in Amerika.
    Ein anderer großer Anreger von weltweiter Bedeutung war Papst Johannes XXIII. Er, der mit siebenundsiebzig Jahren Papst geworden war, verstand die Zeichen der Zeit und die Empfindungen der nachwachsenden Generation. In seinem gewaltigen Reformwerk kam neues Denken zum Zuge. Ihm ging es um die Annäherung der Kirche an die Welt und um die ökumenische Überwindung trennender Grenzen. Fromm war er gerade durch seine wahre Zeitgenossenschaft. Gläubige und Ungläubige verehrten ihn und fühlten sich aufgerufen, in seinem Sinne mitzuarbeiten.
    Besonders nachhaltig war die Resonanz in Deutschland, diesem seit der Reformation auf klassische Weise gemischtkonfessionellen Land mit allen dazugehörigen, bis tief in die Privatsphäre der Menschen reichenden Problemen.
    Auch mein eigenes Leben erhielt neue Impulse, die meinen künftigen Weg bestimmten. Im Mittelpunkt standen dabei für mich die Laienarbeit im Deutschen Evangelischen Kirchentag, eine langjährige Mitgliedschaft im Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und eine Aufgabe im Genfer Weltrat der Kirchen. Nicht diese Tätigkeiten waren es, sondern meine späteren politischen Mandate, die mich mit einer breiten Öffentlichkeit in Berührung brachten. Doch verdanke ich ihnen die stärksten Prägungen für die damals vor mir liegende Zeit. Sie waren es, die mich anzogen und förmlich erzogen. Mit ihrer Atmosphäre und ihren menschlichen Bindungen entstand ein mich verwurzelnder Lebenskreis. Da auf ihn ein so wesentlicher Teil meiner Anschauungen und Aktivitäten zurückgeht, sei es mir erlaubt, dies zu schildern, bevor ich über Politik im engeren Sinn berichte.

Deutscher Evangelischer Kirchentag
    Der Deutsche Evangelische Kirchentag hat eine längere Geschichte. Sie reicht zurück bis in die Zeit der vormärzlichen und märzlichen Unruhen des Jahres 1848. Auf der damaligen Gründungsversammlung in Wittenberg hielt Johann Hinrich Wichern eine berühmt gewordene Rede, mit der er entscheidende Anstöße zur Ökumene und zur christlich-sozialen Bewegung gab. Er legte den Grundstein für die Innere Mission, die als Diakonisches Werk bis heute fortlebt. Es war eine große Tat.
    Für den Kirchentag kam später eine wechselvolle Geschichte, bis er in den Wirren der nationalsozialistischen Herrschaft unterging.
    Der pommersche Pietist Reinold von Thadden-Trieglaff, ein mutiger und streitbarer Teilnehmer am Kirchenkampf im Dritten Reich, faßte im sowjetischen Gefangenenlager am Eismeer den Entschluß, den Kirchentag zu neuem Leben zu erwecken. Mit seinem Spürsinn hatte er einen Nerv der Zeit getroffen, und dank seiner energischen Leitung gelang es, eine evangelische Laienbewegung von bisher nicht gekanntem Ausmaß zu schaffen. 1950 kam in Essen das erste große Treffen zustande.
    Was ist mit Laie gemeint? Nicht ein Laizist im Verständnis romanischer Länder, der sich mit dieser Bezeichnung von religiös gebundenen Strömungen unterscheiden will. Gemeint ist auch nicht der Abstand zwischen dem geweihten Priester und dem Laienmitglied der Gemeinde; er steht bei Protestanten nicht im Vordergrund. Mit seinem Begriff vom allgemeinen Priestertum aller Gläubigen hatte sich Martin Luther gerade einer solchen Zweiteilung vehement widersetzt. Nach den Worten seines ihn bewundernden Kritikers Karl Marx hat Luther »den Glauben an die Autorität gebrochen, weil er die Autorität des Glaubens wiederhergestellt hat. Er hat die Pfaffen in Laien verwandelt, weil er die Laien in Pfaffen verwandelt hat.«
    Wir

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