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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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engagieren, packte
mich mehr, als immer tiefer in die private Wirtschaft einzutauchen. Ich war vierundvierzig Jahre alt, und wenn es einen wirklich richtungweisenden Entschluß zu fassen gab, dann war dafür jetzt die Zeit gekommen. Natürlich sah ich nicht voraus, wohin mich mein Lebensweg noch führen würde. Daß es aber eine entscheidende Wende bedeuten würde, war mir klar. In diesem Bewußtsein sagte ich zu.
    Obwohl Deutschland inzwischen hermetisch geteilt war, kam es zu einer gesamtdeutschen Wahl. Die zum Wahlgremium, der sogenannten Präsidialversammlung, gehörenden westlichen Mitglieder reisten in den Ostteil von Berlin und vollzogen mit den Mitgliedern aus der DDR die Wahl. Angesichts der scharfen politischen Trennung und einer ganz ungewissen kirchlichen und staatlichen Zukunft war es für uns ein aufregendes und bewegendes Treffen. Wir standen vor großen Erwartungen und wußten doch nicht, wie wir sie würden erfüllen können. Und in Gedanken an die mir nun zufallende Leitungsaufgabe konnte ich gar nicht anders, als an das Lutherwort von Furcht und Zittern denken.
    Mutlosigkeit durfte aber natürlich nicht aufkommen. Jetzt sollten keine Gemütsregungen das Feld beherrschen, sondern es ging um konkrete Verabredungen für die nächsten Themen der Kirchentagsarbeit. Zum Glück blieb auch mir selbst gar keine Zeit zu sorgenvoller Meditation. Sofort nach der Wahl mußte ich in Westberlin vor die Presse treten. Damit hatte ich bisher keinerlei Erfahrung gehabt. Auf den Newcomer wurde aber dort keine Rücksicht genommen. Und als ich nun zum ersten Mal in meinem Leben in die Linse einer Fernsehkamera gesprochen hatte, sagte mir nach vollbrachter Tat der Journalist: »Ihr Statement war wirklich ganz ausgezeichnet. Es dauerte neunzig Sekunden. Bitte sagen Sie genau dasselbe noch einmal in der Hälfte der Zeit.« Das war meine Medientaufe.
    Ungezählte Male war ich in den folgenden Jahren bei unseren Freunden in Ostberlin und in der DDR. Aus erster Hand erlebte
ich die Härten ihrer Existenz und die Kraft ihres Glaubens in einem sie ständig überwachenden System. Den Behörden der DDR waren natürlich auch meine Besuche nicht unbekannt. Die Einreise ging durchaus nicht immer glatt vonstatten. Es kam vor, daß sie mir am Bahnhof Friedrichstraße nach langem Warten mit den Worten: »Sie sind in der DDR unerwünscht« verweigert wurde. Die zahllosen, immer von neuem aufwühlenden menschlichen Kontakte und Beratungen im Osten und die dabei gewonnenen Informationen über das Leben in der DDR führten ganz von selbst dazu, in meinen späteren politischen Aufgaben die Deutschland- und Ostpolitik zum Schwerpunkt meiner Arbeit werden zu lassen.

Ökumenischer Weltrat der Kirchen
    Der ökumenische Charakter des Kirchentages führte zu einer engen Zusammenarbeit mit dem Weltrat der Kirchen, dem alle christlichen Kirchen der Welt außer der römisch-katholischen Kirche angehören und dessen Domizil Genf ist. Ökumene ist das griechische Wort für die ganze bewohnte Erde. Das Ziel ist Einheit. Aber welche? Und wie? Geht es um den zwischenkirchlichen, interkonfessionellen Kontakt? Oder um die interkulturelle Dimension, also um Gerechtigkeit und Frieden in der einen Menschheit? Darüber gab es oft Spannungen.
    Die römisch-katholische Kirche ist nicht nur die bei weitem größte christliche Kirche; sie ist Weltkirche, auf die eine oder andere Weise mit dem Leben aller Völker verbunden. Im Genfer Ökumenischen Rat dagegen sind die Mitgliedskirchen im allgemeinen örtlich, national oder regional verwurzelt und leiden oft stärker unter zwischenkirchlichen Gegensätzen, deren Überwindung für sie besonders wichtig ist. Doch soweit ich es miterlebt habe, gibt es im Weltkirchenrat, zumal im Zeichen der Säkularisierung und Entchristlichung der Welt, keinen ernsthaften Streit darüber, daß Verantwortung für die Kirche und Verantwortung für die Welt untrennbar sind. Wir waren uns sehr wohl bewußt, daß sich die Welt von der Frage bedrängt fühlte, nicht was , sondern ob die Kirche glaube. Die Kirche kann dies nur beantworten, indem sie sich in der Welt wiederfindet, dort also spricht und handelt, um etwas dazu beizutragen, daß sich die Welt bewege und verändere. Die Suche nach Einheit der Kirchen ist von großer Bedeutung, aber kein Selbstzweck. Im Vordergrund stehen Beiträge zur erneuernden und friedlichen Einheit der Menschen und zur Bewahrung der Schöpfung für alle.

    Das in majestätischer Einsamkeit gelegene

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