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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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gehört zu den größten Erfolgen der Nachkriegszeit. Es waren die politischen Führungen, die es zustande gebracht haben. Die Europaidee öffnete den Weg. Die Verständigung wurde in keiner der beiden Gesellschaften mehr prinzipiell in Frage gestellt.
    Im deutsch-polnischen Verhältnis dagegen waren die Hände der Politiker beider Länder lange, allzulange gebunden. Für uns Deutsche lag dies an der größten und bei weitem schmerzvollsten Kriegsfolge, dem Heimatverlust im Osten; politisch kam der Zusammenhang zwischen der offenen deutschen Frage und der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze hinzu. Für die Polen ging es um Sicherheit vor künftigen deutschen Ansprüchen, aber eben nicht nur um sie, sondern zentral darum, endlich wieder ganz das eigene Polen werden zu können, befreit von der Umklammerung durch Russen und Deutsche, unter der das Land seit den polnischen Teilungen im späten 18. Jahrhundert gelitten hatte. Der Zweite Weltkrieg war ausgebrochen, weil Hitler und Stalin sich auf Kosten von Polen geeinigt hatten. Bis tief in die Nachkriegszeit hinein war wegen der sowjetischen Präsenz die freie polnische Nation ein unerreichbares Ziel geblieben.
    Um von außen einen Beitrag zur Lage der Polen leisten zu können und dafür auch in Polen selbst wichtige Partner zu finden, bedurfte es des Willens zur menschlichen und historischen Verständigung. Die Vorreiter auf diesem Weg wurden die Kirchen und manche ihrer politisch engagierten Laien. Auf polnischer Seite waren es neben der mächtigen katholischen Kirchenhierarchie katholische Intellektuelle, Schriftsteller und -als Mitglieder der Znakgruppe - unabhängige Sejm-Abgeordnete, unter ihnen Stanislaw Stomma und Tadeusz Mazowiecki. Die polnischen Bischöfe schrieben gegen Ende des II. Vatikanischen
Konzils an ihre deutschen Amtsbrüder einen Brief mit dem berühmten Satz: »Wir vergeben und bitten um Vergebung«. Auf deutscher Seite fiel neben den katholischen Bischöfen, die den Brief beantworteten, der evangelischen Seite die wichtigste Rolle zu. Hier lag die prägende Bedeutung der Ostdenkschrift. Sie war auch für mich selbst der entscheidende konkrete Ansatzpunkt, um an einem neuen deutsch-polnischen Verhältnis mitzuwirken, das mir ganz besonders am Herzen lag.
    Die starke Wirkung der Denkschrift beruhte im wesentlichen darauf, daß das Thema längst fällig geworden war. Es war hohe Zeit für die Bundesrepublik geworden, ihr Verhältnis zu den östlichen Nachbarn aus eigener Kraft zu verbessern und, soweit möglich, zu normalisieren. Es war weder menschlich zumutbar noch politisch klug, bei Heimatvertriebenen immer länger die Hoffnung wachzuhalten, daß es vielleicht doch bald noch einen Friedensvertrag geben werde und sie dann nach Hause zurückkehren könnten, wenn die alten deutschen Ostgebiete wenigstens zum Teil an Deutschland zurückfallen würden. Beim Verlust der eigenen jahrhundertelangen Heimat ging es um die tiefsten existentiellen Empfindungen. Gerade auch in den Kirchen und Gemeinden hatten wir es mit ihnen zu tun. Deshalb war aber auch gerade dort die Einsicht gereift, wie unverantwortlich es gewesen wäre, die Wirklichkeit auch weiterhin sowenig deutlich beim Namen zu nennen, wie es bis dahin in der Politik geschehen war.
    Das Thema der Denkschrift war ein Musterbeispiel dafür, daß man kirchlicherseits besonders sorgfältig zwischen letzten und vorletzten Dingen unterscheiden muß. Die Geschichte lehrt uns ja deutlich genug, wie rasch oft kirchliche Autoritäten bei der Hand waren, ihre jeweiligen Standpunkte unter Berufung auf Gottes Willen durchzusetzen. Auf Befehl des zürnenden Gottes sollte Johanna verbrannt werden. Bald darauf aber sollte sie auf Geheiß des liebenden Gottes heiliggesprochen werden. Gewiß sind dies Beispiele aus dem Mittelalter. Aber auch bei der
Ostdenkschrift unseres eigenen Zeitalters galt es, einer Gefahr zu widerstehen, die schon bis in die kirchlichen Synoden gedrungen war, nämlich unter Berufung auf die Bibel und den Namen Gottes entweder einen Gebietsverzicht jenseits von Oder und Neiße zu verlangen oder mit derselben Autorität umgekehrt ein Recht auf Heimat durchzusetzen.
    Diesmal waren wir uns in unserer Kammer über die Notwendigkeit eines aufrechten Umgangs mit der Wirklichkeit und einer Annäherung zum Frieden nun auch mit unseren ehemaligen Feinden im Osten einig, und zwar im vorletzten Sinne. Auf der Klarheit dieser Aussage beruhte schließlich auch die Wirkung der Denkschrift.
    Eine kleine

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