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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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geschichtlichen Entwicklungen. Innerhalb und außerhalb der Union sahen viele damals in ihm den kommenden Mann.
    Die wichtigsten Anstöße aber kamen aus Berlin. Dort hatte der Bau der Mauer den entscheidenden Schock gebracht. Als sich bei den Westalliierten niemand rührte, um der physischen Teilung der Stadt entgegenzutreten, verflogen letzte Illusionen. Der damalige Regierende Bürgermeister Willy Brandt hat es oft mit den Worten geschildert: »Der Vorhang wurde weggezogen, und siehe: die Bühne war leer.« Gemeint war die Bühne, auf der das Stück Viermächteverantwortung für Berlin als Ganzes auf dem Spielplan stand, ein Stück, das es in der Wirklichkeit aber eben gar nicht mehr gab.
    Man hatte es in Berlin dem amerikanischen Präsidenten Kennedy zunächst tief verübelt, daß dieser die Teilung der Stadt zugelassen hatte, ohne einzugreifen. Doch das Verhältnis änderte sich rasch. Nun begann der Berliner Senat eine eigene Ost- und Deutschlandpolitik. Wenige Monate nach dem Mauerbau kam es zu ersten Kontakten mit einem Bevollmächtigten der DDR-Führung, etwas bis dahin in Berlin nie Dagewesenes und Unerhörtes. Die Politik der kleinen Schritte begann. Im Dezember 1963 wurde das erste sogenannte Passierscheinabkommen geschlossen. Westberliner sollten über Weihnachten für einen Tag ihre Verwandten im Ostteil der Stadt besuchen können. Beinahe achthunderttausend Menschen, mehr als ein Drittel der Bevölkerung, machten davon Gebrauch. Später folgten weitere Abkommen mit noch größerer Reichweite. Die Parole lautete: Kleine Schritte sind besser als große Worte. Wie sich allem innenpolitischen Streit zum Trotz zeigen sollte, war hier ein unumkehrbarer Weg eingeschlagen worden.
    Zu jener Zeit entstand auch das berühmt und berüchtigt gewordene
Wort vom »Wandel durch Annäherung«. Diese Formel, von Egon Bahr geprägt, wurde zum Schlüsselbegriff für Anhänger ebenso wie für Gegner der Brandtschen Deutschland- und Ostpolitik. Es ging Bahr nicht um eine Konfrontation mit der DDR, sondern um ihre Transformation. Er bekannte sich zu dem Paradoxon, den Status quo dadurch zu überwinden, daß man zunächst nicht seine Abschaffung verlangte. Den Menschen sollte die Teilung erleichtert, die Mauer durchlässiger gemacht werden. Dazu sei, so Bahr, die Mitwirkung der Autoritäten jenseits der Mauer notwendig. Wenn es den Menschen drüben allmählich besserginge, werde dies auch eine entspannende und am Ende eine das DDR-System verändernde Wirkung haben.
    Oft genug ist darüber gestritten worden, wer sich bei einer solchen Annäherung in welcher Weise verändert. Das ist jetzt eine müßige Frage. Die Linie von Brandt und Bahr blieb jedenfalls damals noch strikt unterhalb einer Anerkennung der DDR. Der Vorbehalt eines Friedensvertrages schützte die deutschen Vereinigungsinteressen und hielt - als verbliebenes Besatzungsrecht - die westlichen Freunde bei der Stange. In Westberlin wurde ständig ein enger Schulterschluß mit den Amerikanern gewahrt, denen im allgemeinen diese eigenen deutschen Berliner Initiativen gar nicht übel gefielen. Nur unter dem sicheren Schutz des Westens konnte sich eine Berliner und deutsche Politik auf dem Weg nach Osten machen.
    Der nächste Schritt vollzog sich, als 1966 in Bonn die große Koalition ans Ruder kam, mit Kiesinger als Kanzler und Brandt als Außenminister. Die alte Position der Bundesrepublik war nun ziemlich grundlegend verändert. Es hieß nicht mehr, daß eine Ost-West-Entspannung von einer Wiedervereinigung Deutschlands abhinge, sondern umgekehrt, daß sich die Einheit Deutschlands nur durch Entspannung erreichen ließe, vorausgesetzt, daß diese zu einer Systemöffnung im Osten führen würde.
    Auch in der Nato einigte man sich auf eine gemeinsame Linie. Der sogenannte Harmel-Bericht, benannt nach dem belgischen Außenminister, wurde für die künftigen Aufgaben der Allianz akzeptiert. Danach bekannte sich die Nato zu einer Doppelstrategie, nämlich einerseits die militärische Sicherheit aller ihrer Mitglieder eindeutig und zweifelsfrei zu gewährleisten, andererseits aber eine aktive Politik der Entspannung zu betreiben, unter dem Vorzeichen eines gesicherten Gleichgewichts in der militärischen Gegenüberstellung.

    Auf seinem Rückweg von den USA in seine russische Heimat besuchte Alexander Solschenizyn auch die Villa Hammerschmidt. Nicht nur sein »Archipel Gulag«, sondern auch sein großes Romanwerk »August 1914« schildern Vorgeschichte, Wirklichkeit und

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