Vier Zeiten - Erinnerungen
militärische Konfrontation wurde vermieden. Beide Supermächte respektierten das nukleare Gleichgewicht; jede der beiden achtete die Einflußzone der anderen. Die Berlin-Krise klang ab. Die Mauer blieb, Moskau stellte aber die Position der Westmächte in Berlin nicht mehr prinzipiell in Frage.
Nun begann ein neuer großer Abschnitt der Nachkriegsgeschichte. Die Entspannung wurde zum zentralen Thema. Auf der westlichen Seite war Kennedy dafür die wichtigste Figur. Schon vor seinem Amtsantritt hatte Albert Einstein zusammen mit Bertrand Russell die Initiative für eine Rüstungskontrolle ergriffen. Kennedy setzte amerikanische Wissenschaftler ans Werk, die mit ihren sowjetischen Fachkollegen und mit Sachverständigen aus aller Welt Schritte zur Kontrolle und Beherrschung der Kernwaffen explorieren sollten, wenngleich das ohne Ergebnis blieb.
Mit Kennedys Rückendeckung wurde die sogenannte Pugwash-Konferenz ins Leben gerufen, eine Versammlung aus der wissenschaftlich-technischen Fachwelt. Sie sollte einen Weg zur kollektiven Sicherheit im Atomzeitalter ebnen. Unter die nüchternen Naturwissenschaftler mischten sich bald auch pazifistische Idealisten, die den Kontakt zur Politik im Westen und Osten nicht immer erleichterten. Dennoch gehören die großen Themen der Rüstungskontrollpolitik -vom ersten Atomtestabkommen des Jahres 1963 über den Atomwaffensperrvertrag bis
zu den Salt-Kontakten, den Strategic Arms Limitation Talks - zu dem Erbe von Pugwash. Erst im Dezember 1995, also mit dreißigjähriger Verspätung, ist es dem zuständigen Gremium in den Sinn gekommen, den noch überlebenden alten Kämpfern der Pugwash-Konferenz den Friedensnobelpreis zu verleihen.
Auch Nikita Chruschtschow hatte konstruktiv mitgewirkt. Viele verbinden mit ihm nur die Berlin- und Kubakrise und vor allen seinen Schuh, mit dem er auf dem Pult im Plenarsaal der Vereinten Nationen herumtrommelte. Der britische Delegierte bei den Vereinten Nationen, Ormsby-Gore, hatte sogar einmal vorgeschlagen, man solle sich bei der Abrüstung auf ein Größenmaß verständigen: Keine Waffe dürfe größer und lauter sein als Chruschtschows Schuh.
Dennoch hatte dieser ungehobelte und vitale Mann Bewegung in das stalinistisch erstarrte Moskau gebracht. Als ein begreifbarer Mensch aus Fleisch und Blut wurde er sogar im Westen populär. Die Forscher sind heute der freilich äußerst umstrittenen Spekulation auf der Spur, daß es unter ihm schon Mitte der sechziger Jahre zur Perestroika hätte kommen können, wenn ihn die »Greise aus dem Präsidium« (Oleg Grinevskij) nicht vorher davongejagt hätten.
Allseits, auch in Westeuropa, verbreitete sich nun das Bedürfnis, zu einem neuen entspannten Verhältnis zwischen Ost und West zu kommen. Wen man nicht besiegen kann, so ähnlich lautete die Maxime, mit dem sollte man sich arrangieren.
General de Gaulle war der erste, der damit in Europa Ernst machen wollte. Vor allem wollte er das Thema Entspannung nicht den Amerikanern allein überlassen. Er suchte mit Moskau eine europäische Zusammenarbeit »vom Atlantik bis zum Ural«. Die Frage nach der deutschen Einheit löste er aus dem aktuellen politischen Tagesgeschäft und verwies sie in eine historische Perspektive, das heißt in eine ferne Zukunft, genauso wie Gorbatschow es mir gegenüber noch zwanzig Jahre später in Moskau dozierte, zwei Jahre vor dem Fall der Mauer.
Diese ganze Entwicklung hatte natürlich auch tiefe Auswirkungen auf die politische Debatte in Deutschland. Bei uns orientierte sich die amtliche Politik nach wie vor an der Hallstein-Doktrin, während unsere beiden wichtigsten Verbündeten, die Amerikaner und die Franzosen, sich anschickten, eine Art Entspannungswettlauf nach Moskau anzutreten. Die Vertagung der deutschen Einheit in eine ferne historische Zukunft durch de Gaulle hatte am Rhein ebenso verstörend gewirkt wie der neue Wind von Kennedy. Durch seine Grundsätze drohte Bonn ins Abseits zu geraten.
Man hat Adenauer oft genug vorgeworfen, es sei ihm letzten Endes nie ernsthaft genug um Deutschlands Einheit gegangen und hinter der Entspannungspolitik habe er unbeherrschbare Gefahren für die Sicherheit der Bundesrepublik gewittert. Deshalb habe er sich bei Annäherungen zwischen dem Osten und dem Westen ins Bremserhäuschen begeben.
Solche Urteile habe ich stets für oberflächlich und ungerecht gehalten. Gewiß waren Adenauers Visionen von Deutschland und Europa eher von Köln als von Berlin geprägt. Er verleugnete nie jene
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