Vier Zeiten - Erinnerungen
ersten ernsthaften Prüfung dieser Frage gekommen. Helmut Kohl war es, der sie mir stellte. Er besuchte mich im Frühjahr 1965 in Ingelheim und schlug mir vor, bei der für den Herbst bevorstehenden Bundestagswahl eine Kandidatur in seinem Heimatwahlkreis Ludwigshafen zu übernehmen.
Voller Schwung arbeitete er, der damals Fünfunddreißigjährige, daran, seinen CDU-Landesverband Rheinland-Pfalz in einem liberalen Geist zu öffnen und bundespolitisch zu profilieren. Um die eigenen Reihen zu stärken, scheute er sich nicht, manchen Kreisparteien oder den für die Aufstellung der Landesliste
zuständigen Delegierten die Aufnahme von Kandidaten aus anderen Bundesländern zuzumuten. So gewann er im Lauf der Jahre, um nur einige zu nennen, Heiner Geißler, Bernhard Vogel, Hanna-Renate Laurien, Norbert Blüm, später Walter Hallstein und Roman Herzog für die Mitarbeit in seinem Bundesland. Dies machte allseits einen nachhaltigen Eindruck.
Natürlich wußte jeder, daß Kohl bei alledem durchaus und sehr direkt die eigene politische Zukunft im Auge hatte. Warum auch nicht? Die Anziehungskraft seines Landesverbandes war sein persönliches Verdienst. Er strebte nach bundespolitischem Einfluß für seinen Verband und zugleich für sich selbst. So ist der demokratische Wettbewerb gedacht. Weil er die ja zum Teil sehr unterschiedlichen Ansichten seiner Angeworbenen niemals irgendwie einebnen, sondern im Gegenteil so zur Geltung bringen wollte, wie sie waren, entstand ein Landesverband, der in seiner Aufgeschlossenheit und Lebendigkeit ganz aus dem Rahmen fiel.
Eine bedeutende Journalistin hat viele Jahre später einmal eine ausführliche Charakterstudie über Helmut Kohl mit den Worten: »Seine Botschaft ist seine Erscheinung« zusammengefaßt. Das erinnert mich stets an unsere erste Begegnung. Sein umwegloser Anmarsch auf sein Ziel und seine freundschaftliche Offenheit in einem langen Gespräch beeindruckten mich. Er wußte natürlich sehr genau, daß meine bisherigen Äußerungen und mein Engagement im kirchlichen Bereich durchaus nicht fugenlos in manche der damaligen CDU-Positionen paßten, zumal nicht beim Thema Ost- und Entspannungspolitik. Darin sah er offenbar eher einen Gewinn. Ebensowenig konnte ich meinerseits verkennen, daß es bei der CDU ein Interesse dafür gab, als einen ihrer Bundestagskandidaten den Präsidenten des Evangelischen Kirchentages zu nominieren. Der Gedanke der Union im Sinne einer konfessionellen Ökumene hatte sich zwar politisch weitgehend durchgesetzt, und bei manchen bekannten CDU-Leuten wußte man auf Anhieb gar nicht, ob sie katholisch,
evangelisch oder etwas Drittes waren. Dennoch überwog in der Parteimitgliedschaft, vor allem in Rheinland-Pfalz, nach wie vor deutlich das katholische Element, und eine zusätzliche evangelische Beglaubigung des Unionsgedankens war nicht unwillkommen.
Zum ersten Mal bekam ich nun auch einen Brief von Adenauer, der sich den Vorschlag von Kohl zu eigen machte und mir nachhaltig zuredete. Kurz darauf kam noch ein zweites Schreiben von ihm aus dem schönen Cadenabbia.
Aber es ging nicht. Ein Jahr zuvor hatte ich das Amt des Kirchentagspräsidenten angetreten, das mit den Positionen politischer Parteien nichts zu tun haben durfte. Ich konnte und wollte es nicht mit einem Parteiwahlmandat verbinden. Für die Idee und die sehr persönliche Art seines Vorschlages war und blieb ich Helmut Kohl stets verbunden. Es gab bei mir keinen Zweifel, daß ich früher oder später für ein politisches Mandat kandidieren wollte. Doch 1965 mußte ich absagen. Wir verabredeten uns für später.
Ostpolitische Initiativen aus Berlin; die Harmel-Doktrin der Nato
In die Deutschland- und Außenpolitik der Bundesrepublik kam neue Bewegung. Gerhard Schröder, seit 1961 Außenminister, schickte sich an, die strikte Anwendung der Hallstein-Doktrin auf die kommunistisch regierten Staaten Osteuropas zu lockern und Beziehungen aller Art, außer vollen diplomatischen, zu ihnen aufzunehmen. Mit einer sogenannten Friedensnote im Frühjahr 1966 unternahm er einen großangelegten Schritt, um die Bundesrepublik in die Entspannungspolitik des Westens einzugliedern und ingesamt ein neues Verhältnis zu Osteuropa zu suchen. Zum ersten Mal wurden in dieser Note formell Gewaltverzichtsvereinbarungen
vorgeschlagen, die später zum Kern der Ostverträge wurden. Schröder war ein kluger, erfahrener, standfester Politiker. Er war unverrückbar in seinen Prinzipien und zugleich aufgeschlossen für die
Weitere Kostenlose Bücher