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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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Memorandum ein symptomatischer und wichtiger Schritt. Es war ein Zeichen dafür, daß das Motto »Mehr Demokratie wagen« schon die ganzen sechziger Jahre durchzog. Auf nicht ganz legitime Weise hat dieser Slogan seine Berühmtheit erst später durch die Antrittserklärung der Regierung Brandt erhalten.
    Trotz der amtlichen politischen Reserve war mit dem Kapitel
des Memorandums zur Ostpolitik und speziell zu Polen ein Stein ins Wasser geworfen. Die »evangelische Mafia«, wie die Autoren mit ihren Freunden und Kommentatoren bald genannt wurden, arbeitete weiter.
    Die evangelische Kirche nahm jetzt auch amtlicherseits das Thema Polenpolitik auf. Für Ausarbeitungen und Verlautbarungen zu politischen Fragen hatte sie die »Kammer für öffentliche Verantwortung«. Ludwig Raiser, Mitverfasser des Tübinger Memorandums und zugleich Präses der EKD-Synode, also der Präsident des Evangelischen Kirchenparlaments, war ihr Vorsitzender. Ich war ein Mitglied und zeitweise Stellvertreter von Raiser im Vorsitz.
    Die evangelische Kirche hat sich im Laufe der Nachkriegsjahrzehnte ziemlich oft zu Fragen der Gesellschaft und Politik in unserer Zeit geäußert. Manche meinen: zu oft und auch nicht immer sehr glücklich im Inhalt. Das mag so sein. Nach meinem Eindruck war und ist dies freilich ein Problem weniger der Häufigkeit als der mitunter fehlenden, wohlbegründeten Klarheit und Eindeutigkeit. Gründe dafür liegen im Wesen des Protestantismus.
    Dem englischen Schriftsteller W. H. Auden, der 1935 Thomas Manns Tochter Erika geheiratet hatte, wird der Satz zugeschrieben: »Die Wahrheit ist katholisch, protestantisch ist das Suchen nach ihr.« Wäre es so, dann genügte es ja, wenn der Protestant sich darauf konzentrierte und beschränkte, den Katholiken zu suchen und zu finden. In Wahrheit suchen wir alle. Wir haben nur unterschiedliche kirchliche Überlieferungen und Regeln dafür, wie wir unterwegs sind und auf welche Weise wir zu Übereinstimmungen und Entscheidungen kommen.
    Wie die örtlichen Gemeinden, so sind auch ihre kirchlichen Leitungsgremien Spiegelbilder einer freien, pluralistischen Gesellschaft, deren Mitglieder in ihren Ansichten divergieren und mit unterschiedlichen Schwierigkeiten im Leben zu ringen haben. Im Glauben vereint zu sein bedeutet gewiß die Verpflichtung
und den Willen, ernst zu nehmen, was die zehn Gebote sagen und was in der Bergpredigt steht. Es heißt aber nicht, in allen Fragen der Welt übereinzustimmen.
    Auf Dietrich Bonhoeffer geht die Unterscheidung zwischen den letzten und den vorletzten Dingen zurück, zwischen dem Glauben an Gottes Wahrheit und der Verantwortung für die Aufgaben unseres Lebens in unserer Welt. Wenn eine Synode oder Kammer sich zu einem Problem unserer Zeit äußert, dann sind dies vorletzte Dinge. Und wenn unsere Meinungen verschieden sind, so gilt es, sich darüber so friedlich und so aufrichtig wie möglich auseinanderzusetzen und zu verständigen, nicht aber, mit dem Besitz der Wahrheit in den letzten Dingen übereinander herzufallen. Sich zu verständigen ist oft ein schwieriger Prozeß. Es gibt mehr als eine kirchliche Verlautbarung, die damit so ehrlich umgeht, daß darunter ihre Klarheit und Wirksamkeit leidet.
    In der Mitte der sechziger Jahre gab es jedoch eine Erklärung der Kammer für öffentliche Verantwortung in der EKD, die sich mit Klarheit und Deutlichkeit zu einem zentralen Thema äußerte und damit eine ganz ungewöhnliche Wirkung erzielte. Es war die Denkschrift mit dem Titel »Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn«. Sie war von den Kammermitgliedern aus Ost und West gemeinsam verabschiedet worden.
    Diese Ostdenkschrift gab Anlaß zu heftigen Auseinandersetzungen, brachte am Ende aber bis tief hinein in die politischen Parteien einen entscheidenden Anstoß für die Entspannungspolitik vor allem im deutsch-polnischen Verhältnis.
    Zum ersten Mal wurde damit das Thema Polen im Bewußtsein der Bundesrepublik in den besonderen Rang gerückt, der ihm gebührte. Es waren nicht die politischen Verfassungsorgane, die dies bewirkten, sondern die Gesellschaft und besonders die Kirchen - bei uns Deutschen ebenso wie in Polen selbst.
    Frankreich und Polen stellten für uns Deutsche die beiden
größten Aufgaben einer Bereinigung der Kriegsvergangenheit dar. Sie waren aber in ihren historischen Wurzeln und in der Art ihrer Lösung grundverschieden. Was zwischen Franzosen und Deutschen gelungen ist,

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