Vier Zeiten - Erinnerungen
Rheinländermentalität, die es hart getroffen hatte, daß Preußen auf dem Wiener Kongreß 1815 nicht, wie von Hardenberg erhofft, Sachsen erhalten hatte, sondern statt dessen das Rheinland nehmen mußte. Nach Adenauers Auffassung hatte Großbritannien Europa »zerstört«, weil es nur an ein starkes Gegenwicht zu Frankreich gedacht und daher die Berliner nach Köln geholt habe. Aber Adenauer war ein viel zu kluger Staatsmann, als daß er die Realitäten übersehen hätte. Früher als andere hatte er mit dem sowjetischen Botschafter über eine österreichische Lösung für die DDR diskutiert. Vier Monate nach dem Bau der Berliner Mauer schlug er Moskau einen zehnjährigen Burgfrieden vor, freilich ohne daß die gemeinten Einzelheiten ganz klar wurden. Überlegungen der Menschlichkeit spielten für ihn eine wichtigere Rolle als nationalstaatliche Ziele. Er selbst bekannte damals, daß er es für den Rest seines Lebens als
seine wichtigste Aufgabe ansehe, zu einem erträglicheren Verhältnis mit der Sowjetunion zu kommen.
Dennoch begann schon am Anfang der sechziger Jahre eine öffentliche Debatte über die ostpolitische Linie der Bundesrepublik. Sie wurde im Laufe der Zeit immer lebhafter und kontroverser, bis sie schließlich in den aufwühlenden Auseinandersetzungen im Bundestag über die Ostverträge zu Beginn der siebziger Jahre gipfelte.
Der erste, weithin hörbare Schritt erfolgte nicht durch die politischen Parteien, sondern als private Initiative. Es waren acht Männer vor allem aus dem wissenschaftlichen Leben, die sich 1961 mit dem alsbald so genannten Tübinger Memorandum kritisch zur politischen Lage der Bundesrepublik zu Wort meldeten. Sie waren alle evangelisch und standen einander persönlich nahe. Jeder von ihnen war schon durch seine beruflichen Leistungen und Verantwortlichkeiten öffentlich hervorgetreten. Zu ihnen gehörten der Physiker Werner Heisenberg, der Philosoph und Pädagoge Georg Picht, der Präsident des deutschen Wissenschaftsrates Ludwig Raiser, der spätere Direktor des Max-Planck-Institutes für Bildungsforschung Hellmut Becker, der Intendant des Westdeutschen Rundfunks Klaus von Bismarck und mein Bruder Carl Friedrich. Ihr wichtigster innerkirchlicher Berater war Bischof Hermann Kunst, der Vertreter der evangelischen Kirche bei den Verfassungsorganen in Bonn.
Sie waren keine mißvergnügten Oppositionellen, die zum intellektuellen Zeitvertreib Denkschriften anfertigten. Was sie antrieb, war die Beunruhigung über eine wachsende Erstarrung in der politischen Landschaft. Mit ausführlichen Begründungen im einzelnen warfen sie der Politik vor, der Bevölkerung nicht in ausreichendem Maß die Wahrheit zu sagen und vor notwendigen harten Entscheidungen auszuweichen. Sie nannten die Beispiele für planlose Wahlgeschenke im sozialen Bereich und forderten eine durchgreifende Neuordnung des Erziehungs- und Bildungswesens. Ein zentrales Kapitel des Memorandums bildete
die Außenpolitik. Hier wandten sie sich vor allem den deutsch-polnischen Beziehungen zu und begründeten die Unvermeidbarkeit einer Anerkennung der neuen polnischen Westgrenze an Oder und Neiße.
Liest man den Text des Memorandums heute nach, dann stößt man auf lauter Argumente, die inzwischen kaum noch umstritten sind. Damals jedoch schien alles noch kontrovers zu sein und löste daher heftige öffentliche Reaktionen aus.
Da ich allen Autoren persönlich verbunden war und beim außenpolitischen Teil an ihren Vorarbeiten mitgewirkt hatte, beteiligte ich mich an der öffentlichen Debatte. Ich schrieb meinen ersten ausführlichen Zeitungsartikel. Das Thema war die Deutschland- und Ostpolitik, insbesondere die Beziehungen zu Polen. Ich argumentierte gegen die stereotypen und erstarrten Formeln, mit denen wir uns nach meiner Meinung nur abkapselten. Wir sollten die Beziehungen zu den östlichen Nachbarn selbst in die Hand nehmen, so schwer dies auch sei, anstatt uns hinter der These zu verschanzen, erst in einem Friedensvertrag könne sich eine frei gewählte gesamtdeutsche Regierung zu territorialen Fragen äußern. Wer habe denn ein Interesse, uns einen solchen Friedensvertrag zu offerieren, wenn wir nicht selbst aktiv würden?
Dennoch war das Echo bei den Parteien gerade zu diesem Thema damals weitgehend negativ. Mein einziger Erfolg war mein erstes Publizistenhonorar, für das ich mir zum Trost eine antiquarische zwanzigbändige Ausgabe des Concise Oxford Dictionary erstand.
Aufs Ganze gesehen war das Tübinger
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