Viereinhalb Wochen
ist einsam. Trauer lässt sich nicht umgehen und nicht beschleunigen. Sie folgt den Gesetzen der Seele, einem Flusslauf, der in jedem Menschen anders vorgezeichnet ist. Die Trauer kommt und geht, wann sie es für richtig hält.
Die Kur näherte sich ihrem Ende. Diese drei Wochen waren durchzogen von Natur, Stille, dem bergenden Gefühl der Alpen um mich herum. Und das größte Geschenk waren zwei neue Freundschaften. Wir drei Frauen tauschten vor dem Abschied unsere Kontaktdaten aus und freuten uns schon auf ein Wiedersehen in Berlin.
Als Tibor nach den drei Kurwochen kam, war die Freude über das langersehnte Wiedersehen groß. Ich bezog mit ihm eine gemütliche Ferienwohnung, und wir lasen zusammen in den Büchern über Trauer und Verlust. Manchmal las ich Tibor vor, was ich unterstrichen hatte:
Es gibt keine Schleichwege durch die Trauer. Immer wieder erzählen Mütter, dass sie sich bewusst schmerzhaften, erinnerungsträchtigen Situationen aussetzen, um zu prüfen, wie weit sie auf ihrem Weg schon gekommen sind. Vielen Müttern erscheint die Trauer um ein verlorenes Kind wie ein verschlingender Tunnel ohne Ende, dessen Ausgang sie nie erreichen werden. Es gibt kein Ziel auf dem Trauerpfad. Doch der Weg wird mit der Zeit weniger steil, freundlicher.
Weihnachten saßen wir einfach aus, zum ersten Mal in meinem Leben ohne Feier, ohne Baum, ohne Festmahl. Wir sagten uns, dass Weihnachten nur ein Datum sei, nichts weiter – das half uns dabei, über die Runden zu kommen. Wir blieben sogar länger als geplant in Oberstdorf und verbrachten noch einen zweisamen Silvesterabend im Allgäu. Am Neujahrstag 2012 traten wir gut ausgeruht die Reise nach Berlin an, auf den Tag genau ein Jahr nachdem wir aus den USA nach Berlin geflogen waren, um dort ein neues Leben zu beginnen. Nun begann zwar wieder ein neues Jahr, doch die »Zwölf« statt der »Elf« hatte so gar keine Bedeutung mehr für uns. Egal, welches Jahr es war – wir waren nun zu dritt, wir fühlten uns komplett, wenn auch einsam. Manche Sterneneltern hatten dem Jahreswechsel entgegengefiebert, so, als ob sie dieses schreckliche 2011 endlich hinter sich lassen könnten. Wir fühlten zu keinem Zeitpunkt so, war 2011 doch bis dato nicht nur das traurigste, sondern auch das schönste, reichste, erfüllteste Jahr in unser beider Leben gewesen.
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Trauerarbeit und ein Buch
Z urück in Berlin, war ich ein bisschen sortierter im Kopf und in der Seele als bei meiner Abfahrt: Eigentlich sollte ich neben einem Säugling sitzen, dachte ich, stillen, wickeln und Schlaflieder singen, aber das hatte nicht sein sollen. »Nicht die Zeit heilt alle Wunden«, hatte ich im Forum der Sternenmamas gelesen, »sondern Gott braucht Zeit, um die Wunden zu heilen.« Diese Zeit wollte ich mir nun auch nehmen. Meinen ursprünglichen Plan, mich wieder um eine Einkaufsleiterstelle zu bewerben, wenn ich wieder halbwegs auf den Beinen wäre, hatte ich fallengelassen: Alles in mir sträubte sich dagegen, und ich hatte weder Lust noch Kraft, gegen meine innere Stimme anzukämpfen. Mir kam diese Art der Tätigkeit einfach zu leblos vor. Ich war nicht durch so tiefe Täler gegangen, um danach einfach weiterzumachen, als ob nichts gewesen wäre. Ich hatte einen Burnout gehabt, eine rückblickend heilsame, wenn auch zum damaligen Zeitpunkt beängstigende Erfahrung. Ich hatte meine Lehren daraus gezogen, viele meiner Ansichten hatten sich um hundertachtzig Grad gedreht. Die Verlockung, einfach wieder einzusteigen, war zwar groß, weil alles so einfach schien: Von einem Headhunter hatte ich kurz nach unserer Rückkehr nach Berlin eine Einkaufsleiterstelle angeboten bekommen – Dienstauto, Handy, toller Titel, sechsstelliges Jahresgehalt, und schon würde es wieder losgehen. Ich blieb aber standhaft. Ich wusste, es war nicht mehr das, was für mich im Leben wichtig ist, obwohl es ein sehr attraktives Angebot war. Es war schwierig für mich, mit mir allein zu sein, war ich doch immer ein Macher, hatte ich doch immer das Gefühl gehabt, etwas leisten zu müssen, um anerkannt zu sein. Aber so ist das nicht, ich war dabei, das zu begreifen. Zu mir zu finden. Mich nicht mehr über Titel, Gehalt oder eigenes Büro zu definieren.
Uns fehlt es an nichts: Mit einem Gehalt, hundert Quadratmetern Wohnung und zwei Autos weniger als in den USA führen wir heute ein glücklicheres Leben als damals. Bei einer Arbeit wie meiner alten fehlte mir einfach das Sinnstiftende, der Ewigkeitswert. Klingt das
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