Viereinhalb Wochen
soll es jeden Tag regnen …
Endlich bestätigte die Nachuntersuchung sechs Wochen nach der Geburt, dass ich wieder joggen durfte! Meine Erlösung! Hatte ich doch wenige Tage zuvor so plastisch davon geträumt, dass ich einen Halbmarathon unter zwei Stunden lief. Als ich morgens aufwachte, war es mir, als hätte Julius zu seiner Mama gesprochen, ich solle mich nicht aufgeben, nicht hängenlassen. Mir stattdessen ein Ziel vor Augen setzen.
Ich brauchte das fast tägliche Laufen, um gegen die bösen Gedanken anzukämpfen. Gegen den Gedanken, ich wäre ein Versager, weil ich es nicht geschafft hatte, meinem Mann ein gesundes Kind zu schenken. Gegen den Gedanken, ich wäre ein Angsthase, wenn ich mich nicht gleich Hals über Kopf in einen neuen Job stürzte.
Ich horchte in mich hinein, ob ich wieder arbeiten wollte – doch das wäre mir wie eine Flucht vorgekommen. Außerdem wurde mir rasch klar, dass ich es nicht mal durch ein Vorstellungsgespräch geschafft hätte, ohne einfach loszuheulen. Zum Jahr 2011 trug ich in meinen offiziellen Lebenslauf nur
Sabbatical
ein, Auszeit. Ein Kind geboren und begraben – das geht in diesem Zusammenhang niemanden etwas an, fand ich.
Viele rieten mir, nur nicht zu Hause zu sitzen und depressiv zu werden – aber ich ließ mich nicht beirren. Ich weinte zwar viel, aber ich war nicht depressiv, sondern ich leistete Trauerarbeit. Seit der Geburt, der Beerdigung waren nicht mal acht Wochen vergangen – was wollten die von mir? Sollte ich funktionieren wie ein Roboter? Ich las über die verschiedenen Phasen der Trauer, las von den typischen, so schmerzhaften Bemerkungen der Außenstehenden, die einen lieber schnell wieder als »normal« und »wie früher« sehen wollen, weil sie selbst diesen Schmerz nicht aushalten wollen oder können. Begriffen sie denn nicht, dass es nie wieder ein »normal« oder »wie früher« geben würde in unserer Familie? Ich empfand es als eine für mich verhängnisvolle westliche Mentalität, dass über solche persönlichen Schicksalsschläge, wie wir sie einstecken mussten, Verzweiflung da ist, die nicht sein darf – das wollte ich nicht einsehen. Ich wusste, dass ich durch diese Verzweiflung durchmusste, sonst würde ich nie wieder Licht sehen. Oft musste ich an einen Spruch denken aus einem Kinderreim, wie ich ihn in den USA als Au-pair kennengelernt hatte:
You can’t go over it, you can’t go under it – I guess, you have to go through it (du kommst nicht drüber hinweg, du kommst nicht drunter durch – ich glaube, du musst mitten hindurch gehen).
Mein Antrag auf die Mutterkur wurde im ersten Anlauf abgelehnt – es gebe keine medizinische Indikation, hieß es in der Begründung des MdK, des »Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung«. Die Frau von der Krankenkasse rief mich an, weil sie nicht wollte, dass ich es per Brief so nüchtern erfahren würde. Sie war selbst nicht einverstanden mit der Entscheidung. Sie war so rührend, mitleidend. Ich erzählte ihr kurz meine Geschichte, und schon bald schluchzte sie mit mir zusammen und versprach, sich noch einmal darum zu kümmern und mit ihrer Chefin zu reden. Dann musste sie auflegen, weil sie nicht mehr weitersprechen konnte wegen der Tränen. Sie hatte selbst zwei kleine Kinder. Ich beschloss, Berufung gegen den Bescheid einzulegen, und ließ mir von unserer Psychologin ein Gutachten über meinen psychischen Zustand schreiben.
Ende Oktober kam ich ans Grab, um Erdbeeren zu pflanzen, für das nächste Frühjahr, für unsere Erdbeere. Ich hatte zum Glück im Internet eine Gärtnerei gefunden, die mir so spät im Jahr noch Erdbeerpflanzen hatte besorgen können. Bei schönstem Herbstwetter saß ich eine Stunde am Grab und heulte mir die Seele aus dem Leib wie schon lange nicht – das offizielle Friedhofsschild mit dem Namen meines Sohnes steckte in der Erde. Seinen Namen in dem Grab stecken zu sehen, die Buchstaben, die mich förmlich anschrien – es war unerträglich. Nach diesem Ausflug kam ich so erschöpft wie schon lange nicht nach Hause. Auch daran merkte ich, dass ich nichts mehr brauchte als Ruhe, Erholung, einen Ortswechsel.
Schon ein freundliches Wort an der Wursttheke im Supermarkt trieb mir die Tränen in die Augen, ein schiefer Blick, eine glückliche Mutter, die mir mit ihren Kindern auf dem Bürgersteig entgegenkam, ließen Wut und Verzweiflung aufwallen. Ich hatte Karten zu einem Konzert von Xavier Naidoo für meine Schwester und mich, die ich noch vor der
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