Viereinhalb Wochen
Schwangerschaft gekauft hatte – es sollte ein Highlight in diesem trüben November werden, doch ich musste mein Ticket weggeben. Ich wusste, es wäre nicht klug, mit 20000 Menschen in der O 2 -Arena. So ging meine Schwester mit einer Freundin statt mit mir zu dem Konzert, und Tibor und ich saßen an diesem Abend, der zu allem Überfluss auch noch ein Montag war, zu Hause, auf der Couch mit einer Flasche Wein. Xavier Naidoo lief im Hintergrund, und wir heulten uns die Augen aus dem Kopf.
Anfang November kam die Zusage für die Kur. Das bedeutete ein tiefes Aufatmen für mich: für drei Wochen fort aus dem Trubel der Hauptstadt! Tibor würde mir zum Ende der Kur nachreisen, und wir würden noch drei Wochen dranhängen, als Winterurlaub. Vorher musste ich nur noch eine Hürde bewältigen – den 18 . November, den errechneten Geburtstermin von Julius. Ich hatte eine Höllenangst vor diesem Datum, doch es wurde weniger schlimm, als ich dachte: Ich war ein bisschen abgelenkt, weil ich meinem Bruder bei der Recherche zu seiner Diplomarbeit half, und so verging der Tag. Ich begann mir seit diesem Tag ohnehin zu sagen, dass ein Datum nur eine Zahl sei – auch in Vorbereitung auf Daten wie den 24.12 . oder den 31.12 .
Als ich wieder etwas Boden unter den Füßen hatte, schrieb ich den entscheidenden Satz in mein Tagebuch:
Zur Ruhe komme ich nur, wenn ich es akzeptiere.
Damals begann diejenige Trauerphase, in der Trauernde versuchen, die Realität zu begreifen. Anfangs war der Schmerz noch zu bestialisch, anfangs stand alles in uns Kopf, begreifen war nicht denkbar. Wir hatten kein Vertrauen, in nichts. Alles war in Frage gestellt, im Guten wie im Bösen, alles war erschüttert, auch unser Gottesbild. Bis dahin hatten wir gedacht, so eine Erschütterung passiert immer nur den anderen, doch nun mussten wir den Gedanken akzeptieren, dass es auch uns passiert war. Dass uns von nun an alles passieren konnte, weil es keine Sicherheiten mehr gab für uns, nirgendwo. Dass es sie noch nie gegeben hatte, wir das aber noch nicht realisiert hatten.
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Hinter den Bergen
F ür meine Kur bekam ich meinen Wunschort zugeteilt, Oberstdorf im Allgäu. Noch im ICE nach Süddeutschland zweifelte ich daran, ob das möglich wäre – ohne Tibor, in fremder Umgebung, ohne die schützende Atmosphäre unserer Wohnung. Drei Wochen sollte ich bleiben, dann würde Tibor nachkommen und wir dort in einer Ferienwohnung zusammen Weihnachten verbringen. »Feiern« wäre das falsche Wort gewesen – das war mit Julius geplant, das war unser Traum geblieben: Erstmals in unserem Leben zu dritt unterm Baum zu sitzen, wie eine richtige Familie. Alles hatten wir auf diesen Traum ausgerichtet, und da der nun geplatzt war, sollte es auch keine Feier geben. Wir wollten einfach diesen Abend wie jeden anderen auch verbringen, ohne Baum, ohne Geschenke, nur mit unseren Erinnerungen und unserer Wehmut. Weihnachten, das hatten wir auch unseren Familien gesagt, würde für uns dieses Jahr ausfallen.
Ich ließ das herbstliche Deutschland an mir vorbeiziehen und meinen Gedanken freien Lauf.
Immer wieder musste ich an meine letzte Auszeit denken, an meine Burnout-Therapie, die gerade mal ein Jahr zurücklag, was ich kaum fassen konnte: Wie eine Ewigkeit kam es mir vor, dass sich mein ganzes Denken damals fast Tag und Nacht um Einkaufspreise, Lieferzeiten, Rabattsätze und Kundenzufriedenheit gedreht hatte, immer schneller und schneller, bis es mich in einem gewaltigen Strudel zu Boden riss.
Doch wenn ich es damals hinbekommen hatte, mich in der Therapie völlig neu zu ordnen, damals sogar mit Tibor auf einem anderen Kontinent, dann würde ich es diesmal vielleicht auch schaffen!
Tatsächlich setzte die Wirkung schon bei der Ankunft in Oberstdorf ein. Mir wurde gleich zu Beginn gesagt, ich müsse hier kein bestimmtes Programm absolvieren, sondern vielmehr gesund werden. Für mich war es schon heilsam, weg von der Stadt zu sein, in der ich mich die letzten Monate im Kreis gedreht hatte. Für mich war es heilsam, viel zu wandern, zu joggen und einfach, so viel es ging, draußen an der frischen Luft, in der Natur zu sein. Doch auch das Programm tat mir gut. Massagen, Bäder und eine psychologische Betreuung durch eine Traumatherapeutin. In den Sitzungen mit ihr holten mich die letzten Wochen wieder ein, allerdings auf eine heilende Art und Weise. Zu allem Überfluss an Gutem wurde ich am ersten Abend zwei jungen Frauen vorgestellt, und ich dachte, mich
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