Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
als eine freundlich lachende
Frau neben mir steht und mir zuruft: „Schau mal, ein Pilger!“ Sie stellt sich
vor als Mme Janine, die Betreuerin der Pilgerherberge. Ich frage sie, wo die
Herberge ist. „Hier“, antwortet sie, „wir stehen davor!“
Ich bekomme ein Bett. Später setze ich
mich geduscht und wohlduftend vor die Herberge und schaue zu, wie zahlreiche
Touristen die alten Häuser, die Pilgerherberge und vielleicht auch ein bißchen
mich bewundern. Sie tun das natürlich nicht direkt, sie wissen ja gar nicht,
daß der Mensch, der da neben der Quelle sitzt, seit fast vier Monaten unterwegs
ist, aber ich fühle mich in wohltuender Weise mit dem Weg, mit dieser Stadt,
mit dieser Straße verwandt. Das tausendjährige Pilgerwesen zeigt sich hier in
mancherlei Gestalt, und ich gehöre dazu! Später sind alle sechs Betten in der
Herberge belegt: vier junge Urlaubspilger aus Deutschland und aus der Schweiz
sowie ein Radfahrer aus Norddeutschland. Er ist in meinem Alter und betont, ein echter Pilger zu sein.
Nach seiner Erzählung ist er zu Hause eine sehr wichtige öffentliche
Persönlichkeit. So wurde er in einem feierlichen Akt vor der heimatlichen
Kirche in Anwesenheit von zwei Zeitungsreportern von dem Priester gesegnet und auf
die Reise geschickt. Seitdem wird in den Zeitungen laufend berichtet, wo er
sich befindet. Er ist stolz darauf, nur Plattdeutsch zu sprechen, und er ist
der Meinung, mehr brauche er auch nicht. Die acht Mark, die wir heute für die
Übernachtung zahlen, ist das erste Geld, das er auf dieser Reise für eine
Unterkunft bezahlt hat. Er berichtet, wie er in einer dörflichen
Polizeidienststelle den diensthabenden Flics „auf die Sprünge geholfen“ hat,
weil sie ihm nicht schnell genug eine Gratisunterkunft besorgt hätten.
Mein inneres Kopfschütteln ist mit
Faszination gemischt: Von den durchfahrenen Landschaften und der Spiritualität
des Weges völlig unberührt und ohne den Ballast von irgendwelchem unnötigem
Psychozeug, kommt dieser Mensch in schwierigen Situationen offensichtlich
besser klar als wir anderen.
Anschließend gibt er mir seine Adresse,
„da man selten gleiche Leute mit gleicher Wellenlänge findet“. Und dabei bin
ich gar nicht zu Wort gekommen!
Dienstag, am 10. Juni
In St-Jean-Pied-de-Port
St-Jean-Pied-de-Port, zu deutsch „St.-Jean am Fuße des Passes“, ist der Ausgangspunkt
der im Mittelalter gefürchteten Bergpassage über die Pyrenäen. Die Berge sind
hier nicht so hoch wie weiter südöstlich, aber immerhin: Der Cisa-Paß liegt mit
1480 Metern dreizehnhundert Meter über uns. Die Stadt besaß schon im 11.
Jahrhundert alle Einrichtungen, die die Pilger vor der schwierigen Passage
benötigten: Kirchen, Herberge, Hospitäler.
Vom Grundriß des an beiden Ufern des
Flusses Nive liegenden Ortes läßt sich die Entstehungsgeschichte ablesen. In
der geometrischen Mitte liegt die steinerne Brücke, das wichtigste Bauwerk der
Stadt. Die über diese Brücke führende Straße bildet die Achse der Siedlung. Um
diese Verbindung zu verteidigen wurden die starke Mauern und Türme erbaut, die
die Stadt bis heute fast vollständig umschließen.
Gerade die gut erhaltenen Zeugnisse
dieser Geschichte machen St-Jean heute als Touristenattraktion sehenswert. Die
Hauptstraße ist mit alten Häusern gesäumt, von denen das älteste, „Gefängnis
der Bischöfe“ genannt, im 13. Jahrhundert erbaut wurde. Die abschüssige Straße
führt zum Ufer der Nive hinunter, wo sich hinter einem starken Wehrturm die
besagte Brücke befindet. Dieser Wehrturm ist auch der Glockenturm der gotischen
Stadtkirche, der Notre Dame du Pont. Quer auf die Straße vor die Kirche
gestellt, ist das Bauwerk Stadttor, Kirchturm und Brückentor in einem.
Jenseits der Brücke steigt die Straße
wieder etwas höher, wo sie, hinter einem nicht mehr vorhandenen Tor, die Stadt
verläßt.
Wieviele Tausende, wenn nicht Millionen
von Pilgern haben vor mir diese Stadt besucht und sind auf dem hier
beschriebenen Weg dem Heil im Westen zugestrebt? Ich verspüre, wie dieser zwar
schmale, aber stetige Strom von Vorfahren und Nachfahren mich aufnimmt, mitzieht,
trägt. Ich kann nicht anders, ich muß mitgehen, mitreden, mittrinken, mitbeten.
Vorerst allerdings muß ich aufpassen,
daß ich nicht von den Touristenströmen mitgerissen werde, die die Stadt
überschwemmen. Heute laufe ich nicht weiter, ich habe hier Einiges zu
erledigen. Durch die steigende Wärme, aber auch durch meine wachsende
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